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»Für 30 Taler in die Neue Welt«

Buchautor Friedel Schütte hält Vortrag bei den Valdorfer Landwirten

Von Joachim Burek (Text)
und Oliver Schwabe (Foto)
Vlotho (VZ). »Go West« - der Wunsch nach Freiheit und nach der eigenen Scholle trieb im 19. Jahrhundert die lippischen und westfälischen Amerika-Auswanderer an. »In der Zeit von 1830 bis 1900 sind unter den etwa 300 000 westfälischen Auswanderern auch an die 1000 Vlothoer in die Neue Welt emigriert«, schätzt Buchautor Friedel Schütte.

Kein Wunder, war doch die Weserstadt damals ein wesentliches Drehkreuz auf dem Weg nach Amerika. Für drei bis vier Taler konnte der Auswanderungswillige heimlich oder mit amtlicher Erlaubnis mit dem so genannten »Schlickrutscher« auf der Weser nach Bremerhaven gelangen. Wer das Geld nicht hatte, der machte sich zu Fuß auf den Treidelpfaden entlang des Flusses auf nach Bremerhaven, dem Tor zur Neuen Welt. Für 28 bis 30 Taler gab es den ersehnten Platz auf einem der Amerika-Schiffe, die aufgrund der erbärmlichen Lebensumstände auf dem für Auswanderer vorbehaltenen Zwischendeck im Volksmund auch als »Seelenverkäufer« berüchtigt waren.
Friedel Schütte, 73-jähriger Journalist aus Löhne, forscht bereits seit 40 Jahren auf den Spuren westfälischer Amerika-Auswanderer. Gestern Abend stellte er sein neues Buch »Westfalen in Amerika« im Haus des Gastes beim Landwirtschaftlichen Ortsverein Valdorf vor. Anhand zahlreicher Porträts erfolgreicher Amerikaner zeigte er den Zuhörern die vielfältigen Wurzeln auf, die sich in den Biografien dieser Frauen und Männer nach Westfalen und Lippe, ja bis nach Vlotho oder gar Valdorf zurückverfolgen lassen. Getrieben wurden die meisten Emigranten von bitterer Not. War doch mit dem Aufkommen der amerikanischen Baumwolle zwischen 1820 und 1830 die heimische Leinenindustrie zusammengebrochen und auch die Hungerwinter von 1846 bis 1848 taten ihr übriges. Insgesamt 40 Porträts von Westfalen, die ihre Heimat verließen, um sich in Amerika ein neues Leben aufzubauen, hat Schütte in umfangreicher Recherche zusammengetragen. Der Autor bietet dem Leser dabei eine breite Palette an: Armuts- und politische Flüchtlinge, aber auch Ärzte, Bierbrauer, Ingenieure und Pfarrer, Männer und Frauen die er seine »Heroes« (Helden) nennt.
Neben berühmten Amerikanern wie dem späteren »Rinderkönig H.F. Danberg aus Halle (Westfalen), Franz-Arnold Hoffmann aus Herford, dem Redenschreiber des US-Präsidenten Abraham Lincoln, oder dem bekannten Anthropologen Franz Boas aus Minden wurden gestern Abend auch lokale »Heroes« porträtiert. Männer, wie der Pfarrer August Schmieding aus Valdorf.
Schmieding kommt 1838 nach Valdorf, um dort den Kirchenstreit zwischen den Lutherischen und Unierten zu schlichten. »Ein hervorragender Prediger«, so Schütte. 1844 trifft diesen August Schmieding das Schicksal hart. Seine Frau Clara Margarete stirbt und er bleibt mit sechs Kindern zurück. Hinzu kommt, dass eine angebliche Geschichte mit seiner Haushälterin seinen Ruf ruiniert. Im November 1850 kündigt er sein Amt und folgt einigen seiner Verwandten, die bereits in die USA ausgewandert sind, nach Quincy (Illinois) nach.
Dort wird er bereits sehnlichst erwartet. Denn der Gemeinde auf der »Herforder Wiese« in Quincy fehlt ein lutherischer Pfarrer. Im Jahr 1851 ist Schmieding, dem später viele Valdorfer folgen, bereits Pfarrer der von ihm gegründeten Kirchengemeinde St. Jacobi. In den folgenden Jahren macht sich August Schmieding als Erbauer neuer Kirchen und Schulen sowie als Vereiniger von evangelischen Gemeinden einen Namen. 1879 stirbt er hochangesehen in seiner neuen Heimat in Quincy.
Die Begeisterung für die Erforschung der westfälischen Auswanderergeschichte ist bei Buchautor Friedel Schütte unter anderem durch die Lebenswege in der eigenen Verwandtschaft geweckt worden. »Zwei Tanten meines Vaters waren damals nach Amerika ausgewandert«, erzählt er. Inzwischen hat er sich seit Jahrzehnten mit dieser Thematik beschäftigt und im Jahr 2002 haben sich unter seiner Regie 40 Auswandererforscher und Archivare aus Westfalen und Niedersachsen zu dem internationalen »Netzwerk westfälische Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert« zusammengeschlossen, dessen Homepage unter folgender Adresse zu finden ist:
www.amerikanetz.de

Artikel vom 22.03.2006