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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Christoph Freimuth


Wenn jemand vor unseren Augen plötzlich anfängt zu weinen, macht uns das verlegen und wir fühlen uns hilflos. Mit Tränen können wir schlecht umgehen. Noch immer spukt manche veraltete Vorstellung in unseren Köpfen herum: Etwa: Ein Junge weint nicht. Oder: Ein Mann hat stark zu sein. Dabei sind Tränen überhaupt nichts, weswegen man sich schämen müsste.
Tränen lügen nicht, so hat - vielleicht erinnern Sie sich - vor langer Zeit Katja Ebstein gesungen. Wer weint, zeigt Gefühle, zeigt, wie es um ihn steht. Er zeigt sein wahres Gesicht und nicht eine mühsam aufrecht erhaltene Maske. Tränen lügen nicht.
Ganz verschiedene Anlässe können uns die Tränen in die Augen treiben. Zwei Jungen im Sandkasten wollen beide mit dem blauen Laster spielen. »Das ist meines. Gib's her!« Der größere ist stärker und reißt es dem kleinen aus der Hand. Gekreische, wüste Beschimpfungen, Tritte und eine Ladung Sand ins Gesicht. Das Auto liegt längst in der Ecke, aber die verzerrten Gesichter bleiben eine Weile und auch die Tränen der Wut und Empörung, das trockene Schluchzen des Kleinen.
Ganz verschiedene Gefühle können Tränen auslösen. Tränen aus Wut und Enttäuschung, Tränen der Trauer, Tränen vor Schmerzen oder aus Mitleid. Tränen der Verzweiflung »Ich weiß nicht mehr weiter. Ich kann nicht mehr.« Tränen der Rührung, heimlich vergossen im Kino oder auch in echt, wenn einem nach Jahren der knittrige Liebesbrief wieder in die Hände gerät. Oder auch Tränen vor Freude.
Ganz wie im richtigen Leben wird auch in der Bibel öfter geweint und geklagt. An einer Stelle wird berichtet, dass sogar Jesus geweint hat. Ein Bild, das uns irritiert. Männer weinen doch nicht und Erlöser erst recht nicht. Erlöser müssen doch stark sein - wie sollten sie andere sonst retten können. Aber Jesus weint. Da ist er nicht der große Wundertäter, nicht der starke Mann Gottes. Er ist auf dem Weg nach Jerusalem, kurz vor dem Beginn seines Leidensweges, da wird berichtet, wie Jesus über Jerusalem weint. Vielleicht weil er den Untergang der Stadt, ihr Verderben vor Augen hat. Jesus weint über Jerusalem, über die ganze Welt, vielleicht auch über uns. Über die Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit der Menschen. Was geht mich das an? Über ihre Angst, zu kurz zu kommen, über den Krampf in den Händen, die nicht loslassen können, über die Skrupellosigkeit, mit der Menschen die Schöpfung missbrauchen und einander das Leben zur Hölle machen.
Ja, Jesus weint. Es sind auch Tränen des Mitleids. Jesus weint mit den Weinenden. Das ist ja Sinn seiner ganzen Leidensgeschichte, dass er mitleidet, dass die Leidenden nicht allein sind. Jesus weint mit, er leidet mit. Gott kann nicht alles Schwere wegwischen, aber er ist da, will auch im Leiden nah sein. Und das tröstet schon sehr, wenn ich weiß, jemand ist bei mir, nimmt mich vielleicht in den Arm. Allein dadurch verändert sich etwas.
In einer alten Legende wird erzählt, dass alle Tränen dieser Welt vor Gott in einem Krug gesammelt werden. Keine Träne ist unvergessen, kein Leid, kein Schmerz. Keine Träne wird umsonst vergossen. Und am Ende wird Gott selbst abwischen alle Tränen, heißt es in der Bibel, dann soll kein Schreien, kein Tod mehr sein.
In dieser Hoffnung müssen uns Tränen nicht verlegen machen. Die Passionszeit erinnert uns an Jesus, der mitgeweint, mitgelitten hat. Sie macht Mut, es wie Jesus zu machen. Lass doch Gefühle zu. Sag nicht: Nun sei doch stark. Weint mit den Weinenden. Seid einfach da. Tröstet und nehmt den Weinenden vielleicht einfach in den Arm. Allein das verändert schon etwas. Die Passionszeit möchte uns genau dafür neu die Augen öffnen.
Ihnen einen gesegneten Sonntag. Ihr Christoph Freimuth

Artikel vom 18.03.2006