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Der Schein der
heilen Familie

Inzest-Stück in den Kammerspielen

Paderborn (WV). Mit dem aktuellen Theaterstück »Schreib mich in den Sand« von Inez van Dullemen setzen die Westfälischen Kammerspiele morgen ihre Spielzeit fort.

Jeden Tag werden nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes 550 Kinder in Deutschland sexuell missbraucht. Die Täter kommen aus allen Altersschichten, quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen. Nur die wenigsten Fälle werden aufgeklärt, viele Opfer zeigen ihren Missbrauch noch nicht einmal an.
Unter den wenigen Theaterstücken zum Thema »Kindesmissbrauch« ist van Dullemens 1989 uraufgeführtes »Schreib mich in den Sand« als herausragend und richtungsweisend bezeichnet worden. Erzählt wird die Geschichte einer Familie, in der der Vater seine älteste Tochter missbraucht, seine Frau dennoch bei ihm bleibt und die jüngste Tochter, die immer eifersüchtig auf ihre Schwester war, per Zufall von dem Missbrach erfährt.
Inez van Dullemen wurde 1927 in Amsterdam geboren. Neben Novellen, Romanen und Erzählungen schrieb sie drei Theaterstücke. »Die Blumenkönigin« und der Familienroman »Die Erstarrung« gehören zu ihren bekanntesten Büchen. In »Schreib mich in den Sand« verarbeitet sie eigene Erlebnisse und Berichte von einem Aufenthalt in den USA.
Judith kehrt, nach dem Selbstmord ihrer älteren Schwester Anne, für kurze Zeit in das Haus ihrer Eltern zurück. Als sie Annes Tagebücher und Briefe findet, entdeckt sie zwischen den Aufzeichnungen vergangener Ereignisse das schreckliche Motiv für Annes Krankheit und Freitod: Sie wurde jahrelang von ihrem Vater sexuell missbraucht. Vor den Augen der 24-jährigen Judith entsteht nach und nach das Bild eines unglaublichen Verbrechens. Die Mutter bemüht sich, über den Selbstmord der Tochter hinaus, den Schein der gutbürgerlichen Familie aufrecht zu erhalten. Judith, die nun selbst ein Kind erwartet, stellt ihre Eltern zur Rede, um der Vergangenheit auf den Grund zu gehen. Nach und nach wird klar, dass die Mutter vom Missbrauch durch den Vater wusste und ihn dennoch verschwiegen hat.
Nicht die Verurteilung des Täters ist jedoch das Thema der Inszenierung. In einem eindringlichen Kammerspiel wird die Situation aller Beteiligten entwickelt, in die sie geraten, wenn sie nach einer Kindesmisshandlung den Schein einer intakten Familie voreinander aufrechterhalten wollen. Regie führt Katarina Kokstein. Es spielen Wolfgang Finck, Isabel Zeumer, Julika Wagner-Hohenlobbese, Birgit von Rönn, Dominic Gutsche und Christian Onciu. Premiere ist morgen um 19.30 Uhr, weitere Aufführungen am 17., 18., 23., 24., 25., 26., 30. und 31. März sowie am 1., 6., 7. und 8. April.

Artikel vom 15.03.2006