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»Man muss die Familien kennen«

Abschied vom Traumberuf: Dr. Jochen Brünger hat rund 40 000 Kinder behandelt

Von Thomas Hochstätter
Bad Oeynhausen (WB).
Ständig kommen ehemalige Patienten zu ihm und wünschen alles Gute. Es sind sehr, sehr viele ehemalige Patienten. Denn Dr. Jochen Brünger war 29 Jahre lang als Kinderarzt tätig, erst in Eidinghausen, dann 17 Jahre lang an der Portastraße. An diesem Mittwoch ist Schluss.
Dr. Stefanie Eisberg ist die Nachfolgerin. Die 44-jährige bisherige Oberärztin der Mindener Kinderklinik stammt aus Werste.Foto: WB

»Es war mein Traumberuf, und ich würde es immer wieder mache«, sagt er. Den Müttern und Vätern seiner kleinen Patienten hat er geschrieben, dass er seine Praxis mit einem lachenden und einem weinenden Auge übergebe. »Ich freue mich schließlich auch ein bisschen darauf, etwas ruhiger zu leben, mehr Sport zu treiben oder zum Beispiel endlich Spanisch zu lernen«, erzählt Jochen Brünger.
Doch er wird sie bestimmt vermissen, die Kinder mit ihren kleinen Wehwehchen und großen Krankheiten, nach denen es zu forschen galt. »Denn kleine Kinder können ja nicht beschreiben, was ihnen weh tut«, erzählt der Mediziner, der von sich sagt, er habe nicht selten detektivischen Spürsinn anwenden und sich vor allem ein Bild von den Familien seiner Schützlinge machen müssen.
Dabei muss ein sehr reichhaltiges Bild der Gesellschaft dieser Region entstanden sein. Denn Dr. Jochen Brünger dürfte so um die 40 000 Patienten gehabt haben. »1992 haben wir mit Computerabrechnungen und elektronischen Patientendateien begonnen«, erzählt er. »Seitdem waren es mehr als 20 000 Patienten.« Und das in nur 14 Jahren. In den gut 15 Jahren davor werden es wohl noch einmal so viele Kinder gewesen sein. Macht zusammen 40 000 - eine ganze Stadt.
Nicht nur Eltern aus Oeynhausen und Löhne kamen mit ihren Kindern zu ihm - auch wenn sie etwa 80 Prozent ausmachten: Brüngers Praxis wurde zudem von Eltern aus Hüllhorst, Bünde, Hille oder Porta Westfalica angefahren. Ihr Weg blieb über all die Jahre der selbe. Aber die Menschen, die haben sich doch sehr verändert, hat der Mediziner beobachtet.
»Die Eltern sind viel informierter geworden«, erzählt er. Über die Wichtigkeit von Impfungen zum Beispiel müsse man heutzutage nicht mehr lange reden. Dagegen sei die Zeit, die Mütter für ihre Kinder hätten, zurückgegangen. Das mache sich nicht selten in sprachlichen Defiziten bemerkbar. »Mir fällt das dann bei der U8 oder U9 auf«, erzählt Jochen Brünger. Diese Vorsorgeuntersuchungen sind nach vier und fünf Lebensjahren fällig. Fernseher, Handys und Gameboys seien eben eine deutlich andere Art der Zuwendung, die den menschlichen Kontakt nicht ersetzen könne.
Als weiteres Problem hat der Kinderarzt das Gewicht ausgemacht. »Zehn bis 15 Prozent der Sechsjährigen sind übergewichtig«, ist seine Beobachtung. »Die Bewegung steht im Hintergrund, dafür gibt es immer mehr Fast Food, also Kalorien ohne Ende«, sagt er. Das mache schon mal wütend. Es sei nicht seine Art gewesen, dazwischenzuhauen, aber er habe bei den Eltern immer wieder nachgefragt, ob sie ihre Ernährungs- oder auch Erziehungsmethoden inzwischen verändert hätten.
Überhaupt die Erziehung! Was war nicht alles zu sehen und zu lesen in den vergangenen Monaten über Verwahrlosung und was man dagegen tun könnte. Dr. Jochen Brünger hat sich so seine eigenen Gedanken gemacht. »Warum nicht Kindergeldzahlungen an die Vorsorgeuntersuchungen koppeln?«, schlägt er vor. »Da würden die Familien von der Kindergeldkasse einen Laufzettel bekommen, den der Kinderarzt abstempeln muss - sonst gibt es kein Geld. So großer bürokratischer Aufwand wäre das gar nicht.« Bestimmt, sagt er, würden es sich einige Eltern dann überlegen, ihr Kind einmal in Augenschein nehmen zu lassen. Denn bislang sei es doch so: »Die, die dringend kommen müssten, die kommen nicht.«
Wer kam, der hat bei Jochen Brünger auch Elterngespräche und autogenes Training erlebt. Denn dieser Kinderarzt hatte immer auch die Seele im Blick. »Wenn es heißt, das Kind hat Bauchweh«, erklärt der Vater von zwei erwachsenen Kindern, »dann sind es zu 50 Prozent seelische Störungen. Und denen muss man auf die Spur kommen.« Dabei sei es wichtig, die ganze Familie in den Blick zu nehmen. »Denn Kinder sind ein Spiegel ihrer Eltern«, sagt er.
Das Wissen über seine Patienten hat Jochen Brünger jetzt an Dr. Stefanie Eisberg weitergegeben. Die 44-jährige Mindenerin übernimmt die Praxis an der Portastraße am 27. März. Sie stammt aus Werste und war zuletzt Oberärztin an der Mindener Kinderklinik. Für sie schließt sich ein Kreis. »Ich war als Kind selbst Patientin von Dr. Brüngers Vorgängerin Dr. Wilhelmine Haumann«, erzählt sie.
l Vorerst letzter Tag in der Praxis an der Portastraße ist an diesem Mittwoch. Dann wird renoviert. Alles beim Alten bleibt beim Praxisteam mit Daniela Lemke, Brigitte Herde, Susanne Rullmann und der Auszubildenden Janina Meding. Nur der Chef, der geht - mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Artikel vom 15.03.2006