11.03.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Ein wildes Jahrhundert« erlebt

Rudolf Gürtler begeht 95. Geburtstag - viel für zweite Heimat geforscht

Von Bernd Steinbacher
(Text und Foto)
Schloß Holte-Stukenbrock (WB). »Ich habe mich immer selbst gefordert. Dann kann man auch andere fordern«, sagt Rudolf Gürtler, der an diesem Samstag seinen 95. Geburtstag feiert, im Gespräch mit dem WESTFALEN-BLATT. »Hauptsache, ich bin noch lange geistig rege und kann meine Arbeit weiter machen«, hofft der ehemalige Ortsheimatpfleger, Lehrer und langjährige Schulrektor in Schloß Holte, Bundesverdienstkreuzträger, Autor der Althöfebücherei im Heimathaus und Übersetzer für vertriebene Deutsche aus seiner ersten Heimat Böhmen.

»Ein wildes Jahrhundert«, bewertet er seine Erlebnisse. Zwei Weltkriege und die Vertreibung hat er überstanden, sich dabei nie entmutigen lassen. Seinen Grundsatz hat er aufgeschrieben: »Anpacken und durchhalten! Alt werden ist Gottes Gunst, dabei ÝjungÜ bleiben aber Lebenskunst!«.
Geboren wurde Rudolf Gürtler in der kleinen Kreisstadt Dauba, nördlich von Prag gelegen. Er war Offizier der CSR-Armee, wurde 1938 zum Leutnant der Reserve in der CSR befördert. Von 1940 bis 1945 war er in der deutschen Wehrmacht, wurde von russischen Soldaten festgenommen, flüchtete während des Transports in seine Heimat Böhmen. Doch im gleichen Jahr »vertrieben mich die Tschechen, weil ich Deutscher war«, so Gürtler. Er erzählt von der Vertreibung, die er mit seinen kranken Eltern erlebt hat. »Ich habe es irgendwie geschafft, dass sie nicht hungern mussten.« Nach kurzer Zeit in Sachsen und Thüringen flüchtete er aus der Sowjetischen Besatzungszone 1947 nach Westfalen, holte 1948 die Eltern schwarz über die grüne Grenze.
Diese Ereignisse haben sich tief ins Gedächtnis eingegraben: »Russische Soldaten haben uns dabei an der Grenze erwischt. Ein Brot hat uns aber gerettet«, erzählt der 95-Jährige. Die Eltern besaßen noch Lebensmittelkarten, holten davon ein Brot, dass Rudolf Gürtler bei der Flucht untern Arm trug. Als er hörte, wie die Russen berieten, was nun geschehen sollte, sagte er, dass sie im Westen hungern würden, sich deshalb Brot besorgt hätten. »Da haben sie uns laufen lassen.«
Seit Mai 1948 lebt Rudolf Gürtler in Schloß Holte, kam durch einen Lehrertausch zufällig hierher. »Die wollten einen Kollegen dort als Chorleiter haben. Ich war ungebunden, also habe ich dem Tausch zugestimmt.« 1950 heiratet er dann in Brackwede seine Frau Ruth geborene Lükewille aus Sende. Sohn Jochen erblickt das Licht der Welt 1951.
Rudolf Gürtler, seit 1950 Mitglied im Heimatverein, beschäftigt sich intensiv mit seiner neuen Heimat, sammelt und sichtet Belege über die Besiedlung der Ostsenne, schreibt 1984 sein Buch »Mitte der Senne«. Bereits 1979 hatte er für die Erforschung der Siedlungsgeschichte des mittleren Sennegebietes das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. »Was er in jahrelanger mühevoller Kleinarbeit erforscht und zusammengetragen hat, ist eine beispielhafte Leistung«, sagte damals Landrat Paul Lakämper.
Sein Hauptwerk mit der größten Wirkung bis ins Ausland ist allerdings die Althöfebücherei mit 443 Bänden, die er zu seinem 80. Geburtstag der Gemeinde schenkte. Von 1985 bis 1991 hat er daran gearbeitet, in den Staatsarchiven in Detmold und Münster geforscht. Jeder Hof vor 1800 ist da erfasst. Noch heute kommen Anfragen von Ausgewanderten aus den USA, die sich für ihre Wurzeln interessieren.
Neben den Forschungsarbeiten hat er seine alte Heimat nicht vergessen. So schickt er Rundbriefe an Vertriebene aus Dauba, mit Informationen, die er sich aus dem tschechischen Informationsblatt übersetzt. Dabei interessiert ihn die innertschechische Politik nicht so sehr, sondern das »was Vertriebene für wichtig halten«. Zum Thema Entschädigung für vertriebene Deutsche hat er einen ganz klaren Standpunkt. »Unter diese Debatte muss ein Schlussstrich gezogen werden. Da etwas zu erwarten ist Quatsch. Wir haben doch hier einen viel höheren Lebensstandard als die Menschen dort«, betont Gürtler. Er erwarte aber, dass die Regierung in Tschechien deutlich abrückt von den Benesch-Dekreten. Darin gehe es um die Beschlagnahmung von Vermögen. Diese Papiere seien mit Hass erfüllt.
Verbittert ist Rudolf Gürtler wegen seines Vertriebenen-Schicksals nicht. »Krieg ist das Schlimmste, was es gibt, Vertreibungen sind eine Folge davon«, sagt er. Doch er habe das Glück gehabt, auch durch die umfangreiche Arbeit über die Senne, hier eine zweite Heimat zu finden.
Gefeiert wird nun in dieser zweiten Heimat am Samstag in kleiner privater Runde. »Das reicht, ein großer Rahmen ist nicht nötig und wohl auch zu anstrengend«, so der Jubilar.

Artikel vom 11.03.2006