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Säuglinge kennen keinen Dienstplan

WV-Serie: Unterwegs mit Hebamme Michaela Becker - 1100 Geburten in zehn Berufsjahren

Von Mario Berger (Text und Fotos)
Paderborn (WV). Ein Tag im Leben einer Hebamme: Das WESTFÄLISCHE VOLKSBLATT begleitete in seiner Serie »24-Stunden« Michaela Becker bei ihrer verantwortungsvollen Arbeit - von der Geburtsvorbereitung bis zur Nachsorge der Mutter mit ihrem Kind.

Es ist 9.30 Uhr, als Michaela Becker ihren Kursraum an der Elsener Straße betritt, in dem acht Mütter mit ihren Kleinen auf eine indisch-schwedische Babymassage warten. »Ich zeige den Frauen, wie sie mit Streicheleinheiten den Kontakt zu den Säuglingen intensivieren, Bauchschmerzen bekämpfen und Wachstumsbeschwerden entgegenwirken«, berichtet die 35-Jährige.
Für 12.30 Uhr ist die erste Nachsorgeuntersuchung im Terminkalender eingetragen. »Diese Besuche werden zunehmend wichtig, da die Verweildauer im Krankenhaus nach der Entbindung immer kürzer wird«, weiß Michaela Becker. Erkrankungen lassen sich dabei rechtzeitig erkennen. Heute geht es nach Husen: Eine Frau, die vor zwei Tagen ihr Kind zur Welt gebracht hat, braucht die Hilfe der Hebamme. Denn: »Bei vielen Müttern ist die Unsicherheit im Umgang mit ihrem Neugeborenen sehr groß«. Neben der Überprüfung der Stillsituation und der Gewichtsentwicklung sowie der Bauchnabelpflege habe die Vermittlung von Selbstvertrauen absolute Priorität. »Gerade für Frauen, die zum ersten Mal entbunden haben, ist mein Besuch oft eine große Erleichterung.« Da braucht man, neben fachlichem Wissen, gute Menschenkenntnis. »Es gibt Mütter, die sind sensibel und ängstlich, andere wiederum sagen, dass sei alles gar nicht so schlimm.«
Michaela Becker, die in zehn Beurfsjahren schon mehr als 1100 Geburten begleitet hat, hat ihren Traumjob gefunden. Im Alter von 14 Jahren schickte sie ihre erste Bewerbung an die Paderborner Hebammenschule, ohne Erfolg. Aus der Not heraus absolvierte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Doch ihr Berufsziel verlor sie nie aus dem Auge. 1994 klappte es dann endlich mit der Aufnahme in die Hebammenschule - zwei Jahre später folgte das Examen. Nach vier Jahren praktischer Tätigkeit im Kreißsaal des St. Vincenz-Krankenhauses entschied sich Becker für die freiberufliche Arbeit.
Gerade die psychosoziale Betreuung der Frauen, die über die Arbeit im Krankenhaus hinaus geht, macht der Hebamme großen Spaß. Aber auch traditionelle Aufgaben wie die Begleitung von Hausgeburten bestimmen ihren Alltag, auch wenn ihre Zahl stark zurückgegangen ist. Für Becker besonders ärgerlich: die Klischee-Vorstellung über die Arbeit einer Hebamme. »Die Menschen verbinden die Tätigkeit häufig nur mit dem Vorgang der Geburt.« Dabei beginnt ihr Einsatz nach dem positiven Schwangerschaftstest und endet, wenn das Kind selbstständig vom Löffel isst.
Zurück im Auto geht es Richtung Elsen, wo eine Mutter mit 39,8 Grad Fieber und Brustentzündung im Bett liegt. Bei Behandlungen wie in diesem Fall schwört Michaela Becker auf Naturheilverfahren. »Ich habe es immer geschafft, Krankheiten erfolgreich alternativ zu behandeln.« Wie auch jetzt. Mit einer Brustmassage, Tee und viel Ruhe soll die junge Elsenerin wieder gesunden. Auf der Rückfahrt klingelt das Diensthandy - eine Mutter macht sich Sorgen um Veränderungen, die sie an ihrem Kind festgestellt hat. »Ich bekomme täglich 15 Anrufe dieser Art«, berichtet Becker, die die Frauen dank ihres Fachwissens individuell beruhigen kann.
Wieder in Paderborn berät Becker eine schwangere Frau, deren Geburtstermin für Mitte April angesetzt ist. »Diese Gespräche sind sehr wichtig«, sagt die 35-Jährige, um den Frauen die Angst zu nehmen. Meistens schwänden Angstgefühle schon, wenn man den Frauen mit der nötigen Gelassenheit begegnet und einfach nur ein offenes Ohr für sie hat.
Mittlerweile ist es 18 Uhr - Zeit für den Kursus, in dem Becker zehn Frauen auf die Geburt vorbereitet. Um 20 Uhr steht die Hebamme schon im Partnerkursus und erklärt werdenden Vätern, wie sie ihrer Frau helfen können, damit diese sich bei der Geburt entspannen kann. »Ich mag diesen Kursus, es ist sehr erstaunlich, wie Männer es schaffen, meistens durch trockene Sprüche, die Spannung herauszunehmen«.
Noch während der Ausführungen klingelt das Baby-Handy, programmiert mit dem Reggae-Song »No woman, no cry«. Es ist die 35-jährige Margit, deren Wehen jetzt regelmäßig kommen. Sofort macht sich die Hebamme auf den Weg. Nach der Kontrolle der kindlichen Herztöne mit dem Höhrrohr geht es auch schon in den Kreißsaal - kurze Zeit später hält Michaela Becker ein kerngesundes, rosiges Mädchen in den Armen. Es ist schon weit nach Mitternacht, als sich die Hebamme auf den Nachhauseweg macht und hofft, vom Bob-Marley-Klassiker wenigstens für die restliche Nacht verschont zu bleiben.

Artikel vom 09.03.2006