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Kritiker fühlt sich
in der Emsstadt
ernst genommen

Fritz J. Raddatz schätzt die Provinz

Rietberg (joz). »Ich schätze die Provinz, da ich hier ernst genommen werde«, bekundete Fritz J. Raddatz nach Bibliotheksleiter Manfred Beines vielsagender Einführung vor dem voll besetzten Saal des Alten Progymnasiums. Der seit 1960 stellvertretende Leiter des Rowohlt-Verlages und ehemalige Chef des Feuilletons der Wochenzeitung »Die Zeit«, Raddatz, las am Donnerstag aus seinen 2003 vorgelegten Erinnerungen unter dem Titel »Unruhestifter«.

Fritz J.Raddatz verlängerte seine Lesung auf Drängen des Publikums sogar noch nach dem von Beine moderierten Gespräch. Dieser zuletzt gelesene Part handelte von einem Besuch des Literaten mit seiner »Mondänen« in New York, von der Begegnung mit Henry Kissinger. Den stilistischen Rahmen dieses Treffens gab eine skurril-ironische und liebevoll bis bissige Persiflierung der vom Kapitalismus dominierten Metropole. Ein Stimmungsbild der Hektik und des Stresses, das es in sich hat. Der erste in drei Leseabschnitte unterteilte Spann begann mit der Schilderung unterschiedlicher Etappen des von dem 13-jährigen Raddatz erfahrenen 2. Weltkriegs. Der aus den Perspektiven des naiven Kindes wie seines Vaters und der Tante aus Stettin und deren Tochter heraus beschriebene Gang der Kriegsereignisse bis zur Bombardierung Berlins übertraf die bis heute nicht abreißende historische Betrachtungsweise über den Krieg, da das Grauen und das Furchtbare als von den Menschen zutiefst Erlebtes mit genialem, stilistisch von innen her kommendem Sprachschatz zum Ausdruck kam. Er ist und bleibt ein Garant für die menschliche Tiefsinnigkeit. Aus dem Menschen heraus beschreibt Raddatz auch seine Freunde und jene, mit denen er gebrochen hat. Das eindringliche Eingehen auf die Schwächen wie Stärken des Verlegers Heinrich Maria Ledig Rowohlt sind wie das Negativ-Porträt von Rudolf Augstein oder »das liebevollste Porträt, welches jemals über Günter Grass geschrieben wurde«, gerade deshalb so überzeugend, da Raddatz sich mit so viel menschlichem Feingefühl, Diskretion und mit für Erklärung und um Schutz und Nachsicht sich bemühender Anwaltschaft in die Persönlichkeiten hineinversetzte. Es kommt einem aber so vor, dass er sich im Gegenüber simultan auch immer wieder selbst beschrieb.

Artikel vom 04.03.2006