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Hätte der Postbote seine Runde nicht wesentlich später als üblich absolviert, dann hätte es noch schlimmer ausgehen können. Aber auch so habe sie ihn in die Notaufnahme bringen müssen, um ihm die Rippen bandagieren zu lassen.
»Wickscher, Dcheckschau«, machte Frank noch einmal seinen Standpunkt deutlich und versuchte sich aus dem Stuhl zu erheben. »Poliech Fresche.«
Bel drückte ihn wieder nach unten. »Das kann warten. In deinem Zustand wirst du niemandem die Fresse polieren.«
Wie bei einem gestrauchelten Pferd verdrehten sich Franks Augen und wurden weiß. Für den beunruhigenden Bruchteil einer Sekunde - bis der Golem seine tödliche Gelassenheit wiederfand und Frank sich setzte - hatte ich den Eindruck, als schaute ich in einen Spiegel. Ich sah die gleiche bedrängte Menschlichkeit, die, einer Todesfee gleich, auch in meinem Herz schrie. Und für den Bruchteil dieser Sekunde fühlte ich mit der armen Bestie und fragte mich, ob wir nicht besser alle Golems wären: gehorsam, blind, unempfindlich gegen Schmerz.

I
ch ließ sie allein und ging ins Frühstückszimmer, wo die diversen Drohbriefe und Benachrichtungen noch immer auf dem Tisch lagen. Ich setzte mich und las sie mit masochistischem Vergnügen durch. Die tragenden Rollen spielten Zahlen: Kontonummern, Zinssätze, ausstehende Geldbeträge, längst vergangene Datumsangaben. Unter entsprechenden Titeln entsponnen diese Ziffern auf jeder Seite ihre Geschichte. Wir wurden im Vorübergehen genannt, in der dritten Person, abgespeist mit vergänglich klingenden Nebenrollen wie »Bewohner(in)«.
Als ich den letzten Brief gelesen und mit der Schriftseite nach unten auf den Tisch gelegt hatte, befiel mich ein Gefühl äußerster Dislozierung - als geschehe das alles Lichtjahre entfernt, in einem feindlichen Paralleluniversum. Unmittelbar gefolgt von einer Art hoch verdichtetem Gespür für das Hier und Jetzt, einer Art fantasmagorischen Bewusstseins für die mir vertraute Umgebung: die schweren, einlullenden Vorhänge, die leise brabbelnden Muster der Tapete, die Standuhr und die Teekiste, die unschuldig in ihren dunklen Ecken ruhten wie schlafende Kinder, die schon bald zu Waisen würden. Ich dachte an Amaurot und an all die anderen vornehmen Häuser, an deren vornehme Herzen, deren Pulsschlag sich mühte, mit dem dünnen Blut der Moderne Schritt zu halten; Häuser, die für einfachere Zeiten gebaut waren, als die Männer noch Hüte trugen und die Frauen Handschuhe, als für Gäste noch das Silber poliert wurde und in den Kaminen das Feuerholz prasselteÉ

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urch die Tür zur Halle sah ich Frank, der zusammenhangloses Zeug in den Telefonhörer blubberte, wie ein Schimpansengeneral, der den nationalen Notstand ausruft. Bel saß etwas abseits, das Kinn auf die Hände gestützt. Ich schaute sie an, schaute dann wieder zu Frank, sah all jene, die vor ihm hier gewesen waren, und bekam plötzlich eine dunkle Ahnung von der Verzweiflung, mit der Bel in dieser Welt einen Platz für sich suchte.
»Mutter wird nächstes Wochenende entlassen«, sagte sie mit schwacher Stimme und wedelte mit dem Brief vom Cedars.
»Gerade rechtzeitig zur Versteigerung«, sagte ich und setzte mich neben sie. »Passt ja genau.«
»Also nichts mit der Bank?«
»Na ja, ein paar Sachen konnten wir schon klären. Allerdings wollen die ihr Geld, knallhart.« Der Fernseher lief ohne Ton: Stumm jagten Raketen über zitternden Wüstensand. »Der Typ in der Bank sagt, dass wir mit unserem Steuerberater reden sollen, der könnte das Ganze vielleicht ein bisschen entwirren.«
»Ich hab schon versucht, ihn ausfindig zu machen. Der ist wie vom Erdboden verschluckt. Und Vaters Akten sind das reine Chaos. Ein einziges Rätsel. Kein einziger Name taucht zweimal auf. Ich weiß nicht mal, ob das überhaupt die richtigen Akten sind.«
»Mutter weiß sicher Bescheid.«
»O Gott.« Bel schlug die Hände vors Gesicht. »Allein der Gedanke ist schrecklich, dass Mutter das allesÉ«
»Irgendwas wird sich schon ergeben.« Ich zupfte sie sanft an den Haarspitzen. »Vielleicht taucht ja ein reicher Onkel auf, von dem wir noch nichts wissen.«

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ört sich nicht gerade wie ein toller Plan an«, sagte sie trübsinning und fummelte an einem Flicken auf ihrer Cordhose herum. »Es ist einfach grauenhaft, Charles. Schon den ganzen Morgen fühle ich mich wie ein Einbrecher. Ich hab das Gefühl, ich schlafe in einem Bett, das jemand anders gehört, und esse von Geschirr, das jemand anders gehört. Jedesmal wenn ich eine Tür zumache, hallt das Echo ewig nach. Und jetzt kommt auch noch Mutter zurück. Ich höre sie schon, dass alles unsere Schuld ist, dass wir Vater im Stich gelassen haben, dass wir unser Geburtsrecht weggeworfen haben und so weiterÉ«
»Ach was, du darfst das nicht immer so ernst nehmen, was sie sagt.«
»WartÕs ab, Charles. Das ist genau das, was sie denkt. Keiner von uns hatÕs verdient, hier zu wohnen; seit Vaters Tod hängen wir nur rum, wartÕs ab.« Sie zupfte einen Faden aus dem Flicken, ließ ihn hängen und nippte an ihrem Brandy. »Ich wünschte, das alles wäre einfach vorbei. Schluss und aus. Dieses Leben unter der Knute von diesem bescheuerten Haus, es hängt mir zum Hals raus, es saugt einem die Seele aus dem Leib, macht einen zum Sklaven, nur deshalb existiert es überhaupt nochÉ«
»Irgendwann ist es ja vorbei, Bel, wir finden schon einen Ausweg, bestimmt.«
»Diesen Hypothekenkram meine ich nicht. Ich meine alles.« Sie trat ein Loch in die Luft. »Ich kann hier nicht mehr leben, Charles. Ich kann nicht so weitermachen. Es ist einfach zu krank. Das ist kein Leben, merkst du das nicht?«
»Leben«, sagte ich bitter.
»Selbst wenn wir ein paar von unseren Antiquitäten verkaufen würden, dieses lächerliche Auto zum Beispiel, diesen Staubfänger, der mir schon fast Leid tut, wenn ich dran denke, dass er draußen eingesperrt ist, selbst wenn wir die Sache richtig anpacken und alles abbezahlen würden, und ich bin sicher, dass wir es schaffen könnten. Aber vielleicht hat es ja so, wie es jetzt kommt, kommen sollen. Weil nämlich so etwas wie Amaurot gar keine Existenzberechtigung mehr hatÉ« Wie eingeschüchtert von der Tragweite dessen, was sie gerade ausgesprochen hatte, verstummte sie plötzlich, senkte den Kopf und starrte in das Brandyglas, das sie mit der linken Hand hin und her schwenkte. Dann machte sie eine ungestüme Handbewegung und redete weiter. »Das ist wie bei einer Geschichte, die eine falsche Wendung genommen hat und jetzt nicht mehr zum Schluss findet. Und das geht schon lange so. Es ist schon lange her, dass unser Leben Hand und Fuß hatte. Wir tun doch so, als wäre noch alles so wie damals, als wir Kinder waren. So darf das Leben nicht sein, Charles, nicht, wenn man jung ist. Vater stirbt, Mutter ist gaga, und jetzt das. Sieht ganz so aus, als will die Welt uns was sagen. Tu was, das sagt sie, tu was, hau ab, solange du noch kannstÉ« Sie hob den Kopf. Ihr Blick schweifte umher und blieb schließlich an dem Glasfries des Actaeon hängen; dahinter in der Halle marschierte Frank auf und ab. »Und sie hat Recht, die Welt. Vielleicht kannst du ja in dieser hohlen Traumwelt leben, Charles, ich kannÕs nicht, nicht mehr.«
Einen langen trostlosen Augenblick lang wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte. Draußen belferte Frank Schlachtpläne ins Telefon. Bel saß zusammengesunken am Fußende des Diwans und starrte deprimiert in den kalten Kamin.
»Hat dich anscheinend ganz schön umgehauen«, sagte ich vorsichtig. »Dass sie dich nicht genommen haben, meine ich.«
Ihr Kopf schoss herum. »Woher weißt du das?«, fragte sie scharf.

I
ch zuckte mit den Achseln. Ich würde sicher nicht preisgeben, warum ich MacGillycuddy aufgesucht hatte, oder dass das alles gewesen war, was er mir erzählt hatte. »Hab ich aufgeschnappt. Erzähl mir, was passiert ist, wenn du willst.«
Sie verschränkte die Arme über den Knien, beugte sich vor und runzelte die Stirn. Ich wusste, dass sie es jemandem erzählen wollte, nur war sie nicht ganz glücklich darüber, dass ich dieser Jemand war. »Also, ich war bei dem Vorsprechen, und es hat ihnen wirklich gefallen«, sagte sie und umklammerte, als sei ihr kalt, mit den Armen ihren Oberkörper. »Sie haben mich angerufen, das war erst vor ein paar Tagen, an dem Tag, als wir bei den Hunderennen waren, morgens. Ich hab also gedacht, ich hab den Job, ich war mir ganz sicher. Mein großer Durchbruch, hab ich gedacht. Keine große Rolle oder so, aber ein Anfang, endlich. Und auch noch Tschechow, Charles, das Stück kenne ich in- und auswendig. Und heute ist dann der Brief gekommenÉ« Sie stockte und drehte den Kopf zur Seite, aber ich konnte die zitternde Träne sehen, die auf ihrem Augapfel schimmerte. »Sie waren ziemlich offen, das war mir eine echte Hilfe, ehrlichÉ«
»Und, was haben sie geschrieben?«

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ass mein Vortrag technisch zwar sehr gut gewesen sei, dass sie aber den Bezug zu den sozialen Realitäten unserer Zeit vermisst hätten.« Zitternd holte sie Luft. »Sie sagen, mir fehlt das nötige Verständnis für É für die Welt. Vielleicht glaubst du, dass das für eine Schauspielerin nicht so wichtig ist, aber es ist wichtig, Charles. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.03.2006