28.02.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Fußballfieber im
»Puschenkino«

Auftakt zu einer neuen WB-Serie

Von Klaudia Genuit-Thiessen
Halle (kg). Ein Schlachtgaul, das Spiel »Büchse fliegt« und ein kleiner Blick des Neids auf den Kumpel mit den ersten Fußballschuhen mit Stollen an den Füßen -Ê in der Auftaktgeschichte der neuen WESTFALEN-BLATT-Serie »Meine Erinnerungen an die WM . . « blickt Georg Wörmann (63), Sportsmann vom SC Halle, auf das Jahr 1954 zurück.

Glücklicherweise hatte Ferkelhändler Ewald Linnert damals dem Vater von Georg Wörmann eine alte Mähre verkauft, ein schlachtreifes Tier, das dieser weiter verscherbeln wollte. Der Handel hätte zwar beinahe einen Keil zwischen die Eheleute Wörmann getrieben, trug letztlich aber doch so viel ein, dass das Geld der Haller Familie für einen kleinen Fernseher reichte, erinnert sich Georg Wörmann, der damals elf Jahre alt war.
Genau auf diesem Apparat mit 36-er Bildschirm sahen Wörmanns mit Freunden und Nachbarn 1954 das »Wunder von Bern«, die legendäre Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz, die erste, an der Deutschland nach dem Krieg teilnehmen durfte. Fußball - das war etwas für die Jungen, die mit Georg Wörmann auf der Wiese zwischen der Mönchstraße und Roonstraße an den Ball traten. Harald Wanner und Gerhard Weber - ja genau der -Êgehörten dazu, Horst Dettmer, Friedhelm Niebrügge, Helmut Pohlmann und Werner Wörheide. Oft spielten sie »Büchse fliegt« - solange wie eine platt getretene Konservendose durch die Luft segelte, hatten die Jungs Zeit, sich in den Büschen zu verstecken. Oder man verbrachte die Zeit im Spielparadies mit einer Art Fußball-Tennis, für den ein Kreidestrich auf die kaum befahrene Mönchstraße gezogen wurde. Der Ball durfte nur einmal aufprallen. Danach musste man versuchen, ihn ohne weiteren Bodenkontakt von Kopf zu Kopf oder Fuß zu Fuß weiter zu balancieren. Georg Wörmann: »Dass wir dabei richtig unser Ballgefühl trainiert haben, hat uns später technisch einen Vorsprung gegenüber anderen verschafft, die Fußball eher als Kampfsport verstanden haben«.
Gekickt wurde ausschließlich mit »Eiern«. Aber als Harald Wanner den ersten richtigen Lederball geschenkt bekam, »das war ein Hammer«. »Wir waren ein bisschen neidisch, aber auch stolz, dass wir mit ihm spielen durften«, erzählt Georg Wörmann. War das erst eine Sache, als Gerd Weber die ersten Stollen unter den Sohlen hatte.
Mucksmäuschenstill waren die Jungs, wenn zu Hause das »Puschenkino« eingeschaltet wurde. Und Georg Wörmann und sein drei Jahre jüngerer Bruder Wolfgang verfolgten mit großen Augen, wie die Elf um Kapitän Fritz Walter, eigentlich krasse Außenseiter auf dem Rasen, um Tore kämpfte. Wörmann: »Wir haben zum ersten Mal die Gefühle der Erwachsenen miterlebt, die Euphorie nach einem Tor und die Betroffenheit, wenn wir hinten lagen«.
Und dann dieses Endspiel. Drei Jahre hatte Ungarn kein Spiel mehr verloren. Ein paar Minuten nach dem Anpfiff lag Deutschland 0:2 im Rückstand. Aber dann gelang es der Mannschaft von Sepp Herberger, das Spiel umzudrehen. Sechs Minuten vor Schluss schoss Rahn das 3:2.
»Das konnten wir zuerst gar nicht glauben«, erinnert sich Georg Wörmann an die Stimmung vor einem der ersten Fernsehapparate in der Lindenstadt. »Waren wir wirklich Weltmeister oder wird das Spiel annulliert?« Dieses Hoffen und Bangen von damals - wenn es demnächst in Deutschland um die schönste Nebensache der Welt geht, wird Georg Wörmann viel ruhiger sein. Inzwischen sind doch Profis am Werk . . .

Artikel vom 28.02.2006