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Hängt davon ab, wer zahlt«, erwiderte ich.
Frank zuckte seufzend mit den Achseln und ging dann zu dem Spiegelglasschalter, um die Wetten abzugeben. Unterwegs warf er vielleicht noch einen traurigen Blick hinüber zum anderen Ende der Tribüne, wo seine abgerissenen und ausgelassenen Kumpels mit Bierdosen anstießen, während ich mit rasendem Puls in den heftiger werdenden Regenguss starrte. Dann ertönte der Startschuss, und der Elektrohase machte sich auf seinen einsamen Weg um den KursÉ
Um Meet the Wifes überragenden Sieg zu begießen, nahm Frank uns in eine Kneipe gleich um die Ecke mit. Sobald wir die Bahn verlassen hatten, besserte sich Bels Laune. Keiner verlor ein Wort über An Evening of Long Goodbyes, der so katastrophal gelaufen war, dass nach dem Rennen weder Frank noch ich auch nur zur geringsten Häme fähig waren. Er hatte schlecht begonnen. Sein Kopf verklemmte sich im Gitter der Startbox, sodass ihn die Stewards befreien mussten. Was folgte, war eine Serie von demütigenden und für seine Gattung dezidiert unwürdigen Umwegen und Fehltritten, deren schändlicher, nie zu tilgender Höhepunkt sich in der dritten Runde ereignete. Der Maulkorb löste sich, und begleitet von der buhenden Menge beendete er das Rennen, indem er über die Reklametafeln sprang und einem kleinen Jungen den Hotdog aus der Hand schnappte.

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as Pub war schäbig und deprimierend, und mein Weißwein kam in einer winzigen Flasche mit Schraubverschluss. Meine Schwester trank mit Frank ein Versöhnungsguinness. Während sie anstießen, schaute ich mir die anderen Gäste an. Ich war tatsächlich der Einzige in Abendgarderobe. Diese Burschen sahen allesamt ziemlich raubeinig aus, und mir fiel auf, dass nicht wenige mir feindselige Blicke zuwarfen.
»Ganz spezielles Ambiente, muss ich schon sagen.« Ich lachte nervös.
»Wir sind ziemlich oft hier«, sagte Frank. »StimmtÕs, Bel?«
»Und ob«, sagte Bel und schaute mir direkt in die Augen. »Das ist unser Lieblingspub.«
Ich seufzte innerlich. Im Rahmen meiner Beziehungen zu Mädchen im Allgemeinen und zu Bel im Besonderen begegnete ich diesem Verhalten ziemlich oft: Sie lieben die Grenzüberschreitung beim Flirten. Gib ihnen einen Rüpel, der ab und zu mal eine Fensterscheibe einschmeißt, und sie reißen sich für ihn gegenseitig die Haare aus - ohne dass sie dabei jemals von ihrer eigenen, sorgfältig gepflegten Elegance Abstriche machen, versteht sich. Manchmal erinnerte Bel mich an eine im Ballkleid durch den Urwald stapfende Hauptfigur von E.M. Forster, im Gepäck das komplette Porzellanservice und das Stickzeug für den Abend. Ich fragte mich, wonach Bel suchte, wenn sie in ihrer Einsamkeit außerhalb ihrer eigenen Welt herumschäkerte, während sie doch genau diese Welt fest verschlossen mit sich herumtrug.

»Gefällt mir sehr gut hier«, sagte ich, um sie zu ärgern. »Wir sollten öfter herkommen. Ich bin gern in Gesellschaft von Arbeitern. Gute, ehrbare Menschen, die zufrieden die harte Woche in der Konservenfabrik Revue passieren lassen.«
»Hier gibtÕs dauernd was auf die Nüsse«, sagte Frank. »Letzte Woche erst:Mein Kumpel und ich kommen hier rein und sehn diese beiden Arschlöcher, die wir von früher kennen. Wir also gleich rüber, und zack, bumm, immer feste drauf. Ich polier also grad dem einen die Fresse, da seh ich, wie mein Kumpel aufÕm Boden liegt und der andere ihm aufÕm Kopf rumtrampelt. Also schnapp ich mir Õne Flasche, und zack, genau zwischen die Augen. Mann, die beiden Penner sind vielleicht abgerauscht.«
Ich nahm das schweigend zur Kenntnis.
»Mann, hab ich gelacht«, sagte Frank.
»Ah ja«, sagte ich.
»Da steht übrigens einer von den Idioten«, sagte er laut. »Siehst du den an der Bar da? Miese versiffte Ratte. Das ist einer von den Idioten, die wir fertig gemacht haben.«
Der fragliche Idiot war klein, hatte einen Bürstenschnitt und am Kinn eine lange, frische Narbe. Als er Frank hörte, drehte er langsam den Kopf zu uns. Wechselseitige Blicke voller Hass. Ich saß zwischen den beiden. Ich rieb mir die Nase, hüstelte leicht und fing schon an zu hyperventilieren, als der Idiot glücklicherweise den Kopf beugte. Frank schnaubte triumphierend. Bel atmete hörbar zischend aus.
»Ach, den kannst du vergessen, den kleinen Pennert«, beruhigte er sie. »Außerdem, wenn dir einer was will, dann hast du doch uns beide, wir beschützen dich. Oder, Charlie?«
»Ha, ha«, sagte ich und ergriff die Gelegenheit, um zu gehen. »Ach, da fällt mir ein, ich muss nochÉ«
»Irgendwo ein Rohr verlegen?« Frank lachte glucksend, während ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Bel verzog triumphierend das Gesicht, als ich meinen Mantel anzog und in kalten Schweiß gebadet eilig nach draußen ging, um nach einem Taxi zu suchen.

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ie Fahrt nach Hause dauerte lang, und an der Haustür sagte ich einem beträchtlichen Teil meines Gewinns Lebewohl. Aber es war mir egal, so erleichtert war ich, zu Hause zu sein. Ich schloss die Tür und lehnte mich dankbar dagegen. Köstliche Gerüche aus der Küche stiegen mir in die Nase, und ich ging nach unten zu Mrs P, die gerade ein Blech Zimtschnecken aus dem Ofen holte, dampfend heiß, die Zuckerglasur auf der goldenen Oberseite blubberte noch. Mrs P erschrak - tatsächlich riss es sie förmlich in die Höhe, nur dass das Blech diesmal wie Ballast wirkte.
»Zimtschnecken«, sagte ich ungerührt. »Eine klau ich mir, darf ich?«
»Na ja, gut.« Sie fing sich wieder und brachte das Blech mit einem flinken Armschlenker vor meinem Zugriff in Sicherheit. »Nein, Master Charles, die sind für Ihre liebe Mutter in Krankenhaus.«
»Ach, das stört sie nicht«, sagte ich und machte einen gekonnten Ausfallschritt in Richtung Blech.
Sie drehte sich ganz um. »Charles, bitte, Sie müssen denken an arme Mutter.«
»Los, geben Sie mir noch eine«, sagte ich schroff.

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ie schürzte die Lippen und hielt mir das Blech hin. Als ein großer köstlicher Bissen des dampfenden Teigs in meinem Mund verschwand, fiel mir wieder mein Plan ein, mittels Zuneigung Mrs Ps schwächelnde psychische Gesundheit zu stärken. Ich schluckte hinunter und sagte: »Wie ist das eigentlich so bei Ihnen?«
»Was?«
»Na ja, in dem Land, wo Sie herkommen?«, sagte ich und nahm noch eine Zimtschnecke. Sie waren wirklich gut. Schon seit ewigen Zeiten hatte sie keine mehr gemacht.
»Ach jaÉ«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Früher, es war sehr schön. Als ich noch war ein kleines Mädchen. Jetzt, viele Probleme.«
»War also schön, als Sie noch klein waren, hmm?«, sagte ich.
Sie stellte das Blech hinter sich auf die Küchentheke und verschränkte nachdenklich die Arme. »Oh ja, sehr schön«, sagte sie. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich deutlich; sie wirkte auf einmal zwanzig Jahre jünger. Ihre bernsteinfarbenen Augen bekamen einen glücklichen, wehmütigen Glanz - nicht unähnlich dem von zwei glasierten Zimtschnecken. »Als ich klein war, wir lebten auf dem Land. Mein Vater war Maler, das ganze Haus war immer voll mit herrlichen Farben. Jeden Tag meine Schwester und ich pflücken wilde Blumen, und mein Vater malt die BlumenÉ«
»Ja, ja«, sagte ich. Diese Art Fragen schienen nicht zum Ziel zu führen. »Aber heute, da ist es ziemlich schlimm, oder? Jede Menge Explosionen, brennende Häuser, so was, oder? Sieht man doch immer im Fernsehen.«
»Heute«, sagte sie und schaute düster auf den Boden. »Heute alles ist anders. So anders, man kann sich nicht vorstellen. Vielleicht hören Explosionen auf, Häuser brennen nicht mehr, aberÉ Wie dieser Teller hier.« Sie nahm ein Teil von Mutters Wedgwood-Speiseservice von der Anrichte und fuhr mit dem Finger über die verschlungenen Verzierungen am Rand. »Wenn auf den Boden fällt, dann ist Teller kaputt. Tausend kleine Teile. Man kann Teller wieder zusammenkleben, aber das Muster, das an jeder Stelle passt zusammen, bleibt kaputt. Weg, für immer. Häuser und Familien, Freunde, die reden auf Marktplatz, Kindern toben und spielen auf Straße, Männer bauen und essen Sandwich in Sonne und schauen hinter schönen Mädchen. Kaputt. Weg, für immer.«

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chtung, lassen Sie den Teller nicht fallen«, sagte ich hastig und riss ihr den Teller aus der erhobenen Hand. Mitternachtsfrühstücke waren eine Sache, aber vorsätzliche Tellervernichtung war etwas vollkommen anderes. Die Frau schien ernstlich verwirrt zu sein. Vielleicht sollte ich den Burschen im Cedars anrufen, damit er sie sich mal anschaute. »Was ist mit Ihrer Familie passiert?« Ich wollte sie auf friedlicheres, für unser Geschirrgut weniger bedrohliches Terrain lotsen. »Wie gehtÕs ihr?«
Sie wollte gerade antworten, doch dann hielt sie inne und schaute mich neugierig an. »Warum fragen Sie das?«
»Nur so. Ich weiß fast nichts von Ihnen. Ist doch komisch, oder? Sie wohnen jetzt schon soÉ«
»Viele, viele Fragen«, sagte sie.
»Na ja, ich meine, die Welt ist doch ein großes Dorf, oder? Völkerverständigung und so.«
Sie verstand nicht. »Viele Fragen«, sagte sie gedankenverloren. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.03.2006