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Meine Beine gaben nach, das Zimmer bekam Schlagseite wie ein Schiff im Sturm. Mit weichen Knien stolperte ich gegen den Kleiderschrank und taumelte wieder zurück, als das Zimmer auf die andere Seite kippte. Ich legte mich aufs Bett und bedeckte meine Augen. Das musste aufhören. Wir konnten so nicht weitermachen. Zum Beispiel mein Magen:Er hielt das einfach nicht aus. Maßnahmen waren erforderlich, entschiedene Maßnahmen.

Drei
Die nächsten zwei Tage waren ausgesprochen friedlich. Bel war die meiste Zeit außer Haus, immer in Begleitung ihres »Projekts«; wenn sie im Haus waren, blieben sie meist auf ihrem Zimmer und übten lesen. Am Tag danach begann der Ärger mit der Bank, und von da an lief wirklich alles aus dem Ruder - obwohl der Morgen so wundervoll begonnen hatte. Mrs P weckte mich kurz vor Mittag und hielt mir das Tablett mit dem Telefon hin.
»Ja?«, sagte ich, nachdem ich sicher war, dass das nicht einer von Mrs Ps mörderischen Tricks war.
»Hallo«, sagte eine unbekannte Stimme. »Charles?«
Mit klopfendem Herzen krabbelte ich aus dem Bett. Die Stimme klang schwül, rau, gleichzeitig kultiviert und skandalös anzüglich. Wie aus tausend Schwarzweißfilmen - das gefallene, in die Jahre gekommene Mädchen, das in einer Bar um Feuer bittet, die reiche Erbin, die in einer schattigen Einfahrt neben dem Detektiv im Auto sitzt, die bebende junge Witwe, die den verbitterten Ex-Marine um Hilfe anfleht. Eine Schwarzweißstimme, die nur zu einem Menschen gehören konnte.
»Laura«, sagte ich mit seltsam dankbarer Gelassenheit, mit der Gewissheit, dass eine Sache beendet war und ein neue begann.
»Ja«, sagte sie. »Deine Schwester hat mich gestern Abend angerufen. Sie sagt, dass du etwas mit mir besprechen willstÉ«
Verdammt, Bel, konnte sie mir denn nichts einfach machen? »Ja, stimmt«, sagte ich. Ein Augenblick glückseliger Spannung verstrich.
»Also, worum gehtÕs?«
Tja, worum gingÕs? Ich konnte ihr ja schlecht sagen, dass sie mir als Zwölfjährige aufgefallen war, als ich das Jahrbuch meiner Schwester durchblätterte. Sie hätte vielleicht einen falschen Eindruck bekommen, und ich wollte auch nicht mit der Tür ins Haus fallen mit irgendwelchem Gerede über Schicksal. »ÄhÉ«, sagte ich.
»Christabel hat gesagt, du willst was über Versicherungen wissen«, sagte sie taktvoll.
»Ja«, sagte ich und griff zu. »Ja, stimmt. Versicherung, klar, in all ihren, äh, Formen und Facetten É Versicherungen É elektrisieren mich geradezu, jaÉ«
»Sie hat was von einer Vase gesagt, die du versichern willst«, sagte Laura so langsam, als müsse sie jemanden mit geistig beschränkten Mitteln bei der Hand nehmen.
»Vasen, richtig, ja, ich hab da eine Vase, die würde ich gern versichern. Ich dachte, du könntest vielleicht mal abends vorbeikommen, dann könnten wir das besprechen. Zum Abendessen vielleicht. Wie wärÕs mit nächsten Samstag?«
Sie schien etwas verunsichert zu sein. »Kannst du nicht einfach im Büro vorbeikommen?«
»Nein«, sagte ich. »Na ja, es geht eigentlich um mehrere Vasen. Ziemlich viele sogar, die kann ich gar nicht alle tragen. Außerdem rede ich über geschäftliche Dinge lieber bei einem guten Essen. Dann, äh, verhungert auch keiner.«

O
h«, sagte sie. Es folgte eine lange Pause. Ich wartete, mahlte lautlos mit den Zähnen und verfluchte mich. Dann verhungert auch keiner - was, um Himmels willen, hatte ich mir dabei gedacht? Litt ich immer noch an den Nachwehen des Olé-Zwischenfalls? Würde ich nie mehr mit einer Frau sprechen können?
»Einverstanden«, sagte Laura plötzlich. »Normalerweise machen wir das ja nicht so, aber schließlich bist du Christabels Bruder.«
»Ja«, sagte ich albernerweise und unterdrückte den Drang, hin und her zu hüpfen und Tränen der Dankbarkeit zu vergießen. »Dann sehen wir uns also am Samstag? So um acht?«
»Tja, denke schon.« Ihre Stimme knisterte. »Ach, noch was, ich leide unter Laktoseunverträglichkeit. Das heißt, dass ich nichts mit Milchzucker essen kann, okay?«
»Sicher, sicher É mach dir keine Sorgen«, sagte ich und legte auf. Für einige Sekunden verharrte ich im Nachglanz des Augenblicks, der noch zögerte, das Wesen des soeben Geschehenen preiszugeben. Dann stieß ich einen Jubelschrei aus und reckte die Faust in die Luft. Sieg! Zugegeben, ich hatte mich nicht im vorteilhaftesten Licht präsentiert, ein klein wenig exzentrisch vielleicht, oder derangiert. Aber was zählte, war ihre Zusage. War sie erst mal im Haus, wo ich alles unter Kontrolle hatte, würde sich schon eins zum andern fügen. Dann würde sie erkennen, dass hier eine Welt auf sie wartete, die nach ihren Wünschen neu erschaffen werden wollte. Berge würden versetzt, Meere geleert, Laktose verbannt bis an die Enden der Welt. All das würde ihr gehören, und sofort würde sie verstehen, dass auch wir einander gehörten.
Um die gute Neuigkeit zu verbreiten, ging ich ins Frühstückszimmer, traf dort jedoch auf Frank, der lediglich rudimentär bekleidet am anderen Ende des Tisches lümmelte und mir den Augenblick gründlich verdarb. »Alles paletti, Kumpel?«, rief er mir entgegen, lehnte sich schamlos postkoital gähnend auf dem Stuhl zurück und entblößte seinen weißen Schwabbelbauch. Mich schauderte. Wie konnte Bel es nur ertragen, so etwas anzuschauen, geschweige denn, so etwas zu spüren, wenn es fettig klatschend É Stop! Ich hatte bekommen, was ich wollte. Sie hatte ihren Teil des Abkommens erfüllt, jetzt musste auch ich zur Détente beitragen. Ich schluckte meinen Ekel hinunter, nickte ihm so wenig feindselig, wie es mir möglich war, zu und nahm mir einen Stuhl.

B
el saß zusammengesunken über einem Haufen geöffneter Briefe. Sie sah ziemlich erregt aus: die Backen rot, die Haare ausgefranst, als hätte sie daran herumgerupft, und auf die scharfe Frage, wer die ganze Marmelade gegessen habe, gab sie keine Antwort. Ich wechselte das Thema und erzählte ihr von Lauras Anruf. »Komisch, dass sie in der Versicherungsbranche ist. Für den Typ hätte ich sie gar nicht gehalten.«
»Mmm.« Bel schaute weiterhin finster auf den Papierhaufen.
»GibtÕs noch Marmelade?«, sagte Frank.
»Ich meine, ist doch komisch, oder?«
»Nicht für Leute, die sie kennen«, blaffte sie mich an. »Was hast du denn geglaubt, was sie ist?«
»Weiß nicht«, sagte ich wahrheitsgetreu. Allerdings hatte ich mir eher vorgestellt, dass sie zu den Klängen von Smooth Jazz, in der Hand eine Tasse schwarzen Kaffees, in einem großen, leeren Haus umherwandert und schwermütig hinaus in den Regen schaut - und das mehr oder weniger von morgens bis abends.
»Ist ja auch egal. Charles, ich muss über was anderes mit dir reden.« Sie drehte sich auf dem Stuhl etwas herum und schaute mich jetzt direkt an. Vom Tischende hörte ich Frank Toast essen und kichern.
»Ja?« Ich fühlte mich plötzlich unwohl.
»Wie lange genau wirfst du die Briefe schon in die Küchenschublade?«
»Warum É weiß nicht.« Wenn der Postbote kam, war ich normalerweise zu Hause, also verteilte ich die Post. Private Briefe legte ich ins jeweilige Zimmer, und die geschäftlichen Sachen kamen in die Küchenschublade, damit Bel sich darum kümmern konnte, wann immer sie wollte. Weder wusste ich, worauf sie hinauswollte, noch warum ihr Gesicht diesen beunruhigend ziegelroten Farbton annahm. »Paar Monate, schätze ich.«
»Und ist dir da irgendwann mal der Gedanke gekommen, mir davon zu erzählen?«
»Erzählen, wovon?«, sagte ich verwirrt. »Ich meine, das ist doch dein É dein kleines Reich, oder?«
»Und wie, bitte schön, bist du zu der Annahme gekommen, die Küchenschublade sei mein kleines Reich?«

I
hr Ton gefiel mir nicht. Ich wollte ihr gerade scharf antworten, als mir aufging, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich zu dieser Annahme gekommen war. Ich zermarterte mir das Hirn. Irgendwann früher mussten wir mal ein Arrangement getroffen haben, dachte ich. Allerdings war es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass ich irgendwann nach ein paar mittäglichen Drinks die Nachmittagspost einfach da abgelegt hatte und erst neuerdings davon ausging, dass wir früher mal ein solches Arrangement getroffen hatten. Wie auch immer, mehr oder weniger seit Mutter im Cedars war, wanderte sämtliche Post, Familienangelegenheiten betreffend, in die Küchenschublade. Wenn ich es mir recht überlegte, so hatte ich mich tatsächlich erst vor kurzem darüber gewundert, dass Bel sich nicht darum kümmerte.
»Und?«, sagte sie.
»Und was?«, sagte ich. »Du hast sie ja jetzt, dann ist doch alles in Ordnung, warum uns noch gegenseitig Vorwürfe machenÉ«
»Charles, hast du dir die mal angeschaut? Weißt du, was das ist?« Sie wedelte mit einem Packen Umschläge, auf denen komische rote Stempel zu sehen waren. »Weißt duÕs?«
»Sonderzustellungen?«, sagte ich ins Blaue. Frank unterdrückte ein Lachen. »Woher soll ich das wissen? Das ist dein Ressort, ist immer deins gewesen.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.03.2006