22.02.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Die Welt bestellt Tamiflu:
Roche verzehnfacht Produktion

Kapseln gelten als Hoffnungsträger im Kampf gegen das H5N1-Virus

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). Wo das Grippemittel Tamiflu produziert wird, verrät Hoffmann-La Roche nicht. »Weltweit an mehreren Standorten«, heißt es nur. Der Schweizer Pharmariese befürchtet Industriespionage, denn Tamiflu gehört zu den gefragtesten Medikamenten überhaupt.

300 Millionen Packungen sollen 2006 hergestellt werden, sagte Dr. Cornelius Wittal aus der Deutschlandfiliale in Grenzach gestern dieser Zeitung. Sein Nachsatz macht die Dimension erst richtig deutlich: »Gegenüber 2004 hat sich die Tamiflu-Produktion verzehnfacht.« Nach der Genehmigung für den US-Markt im Dezember 2005 folgte im Januar dieses Jahres die Zulassung der Kapseln für Kinder zwischen einem und zwölf Jahren auch in Europa. Damit darf das Mittel zur Grippevorbeugung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingesetzt werden.
Das allein erklärt die Faszination von Tamiflu aber nicht. Vielmehr gilt es als Hoffnungsträger im Kampf gegen die Vogelgrippe. Seit in Mecklenburg-Vorpommern tote Schwäne aufgelesen werden, erst auf Rügen und dann auch auf dem Festland, geht die Angst vor einer Übertragung des Virus H5N1 auf den Menschen um. Wittal sagte gestern, dass sich Veterinäre mit dem Medikament eindecken, wenn sie Geflügel keulen, also vorsorglich töten. Im Falle einer Übertragung hilft Tamiflu angeblich, wenn die Behandlung innerhalb der ersten 48 Stunden erfolgt. Anschließend sollen zwei Kapseln am Tag geschluckt werden.
Nach Angaben von Hoffmann-La Roche hemmt das Medikament ein Enzym auf der Oberfläche des Grippevirus und unterbindet so die Ansteckung weiterer Körperzellen. »Führende internationale Forschungsgruppen« hätten beim Test der für die Behandlung des Virusstamms H5N1 in Frage kommenden Mittel »aufgezeigt, dass Tamiflu gegen diesen Vogelgrippe-Erreger wirksam ist«. Weil kein Impfstoff gegen den Virenstamm verfügbar sei, werde sich Tamiflu als »wichtige Therapiealternative herausstellen«. Roche kündigte die Finanzierung weiterer Tierstudien an, um die Wirksamkeit von Tamiflu gegen den Vogelgrippe-Erreger H5N1 zu untermauern.
Egal ob zum Schutz der Bevölkerung vor Grippe oder zur Bekämpfung der Folgen der Tierseuche: Beim Pharmariesen aus Basel bestellten mittlerweile mehr als 60 Länder Tamiflu. Je nach Land unterschiedlich, sollen die Vorräte für 25 bis 40 Prozent der Menschen reichen. Zur Pandemievorsorge innerhalb Deutschlands empfiehlt das Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin eine Abdeckung von 20 Prozent. Damit sollen zuvörderst Ärzte und Polizisten versorgt werden, um öffentliches Leben und medizinische Behandlung aufrecht zu erhalten. Nordrhein-Westfalen strebt eine Abdeckung von 30 Prozent an; das Bundesland beschafft sich die Tamiflu-Grundstoffe und kann aus der Halbfertigware im Ernstfall Medikamente machen.
Dank Tamiflu, das im vergangenen Jahr allein 1,6 Milliarden Franken einbrachte, erzielte Hoffmann-La Roche 2005 einen Rekordumsatz. Die Pharma-Sparte wuchs mit 25 Prozent vier Mal so schnell wie der Weltmarkt. Für Tamiflu seien die Produktionskapazitäten deutlich ausgeweitet und zusätzliche Mitarbeiter eingestellt worden, sagte Cornelius Wittal. Eine Packung mit zehn Kapseln kostet in Deutschland 33 Euro, in afrikanischen Ländern umgerechnet 7 Euro. Der Preis fällt umso stärker, je ärmer und rückständiger ein Land ist.
Inzwischen haben die Schweizer Sublizenzen vergeben. Die Unternehmen Shanghai Pharmaceuticals und Hetero Drugs dürfen Tamiflu nachmachen. Cornelius Wittal: »Wir haben 200 Bewerbungen bekommen; die beiden aus China und Indien erhielten den Zuschlag für die Produktion.«

Artikel vom 22.02.2006