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»Schimpfen dauert noch länger«

Saniye Özergin unterrichtet türkische Väter und Mütter in der Stadtbibliothek

Von Stephan Rechlin
(Text und Foto)
Gütersloh (WB). Starke Eltern - starke Kinder. Seit drei Jahren veranstaltet der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) Elternschulungen unter diesem Motto. Mit Beginn des Gütersloher Bündnisses für Erziehung wurde stets gezweifelt, ob es jemals gelingen würde, auch türkische Eltern zum Besuch solch einer Schule zu motivieren.

»Güçlü Ebeweynlar - Güçlü Cocuklar« steht auf der Tafel im Versammlungsraum der Stadtbibliothek. Zu Beginn der Unterrichtsstunde fordert Erzieherin Saniye Özergin (36) die acht türkischen Mütter auf, aus der vergangenen Woche zu erzählen. Kam Aische morgens wieder nicht aus dem Bett? Trödelt Bülent immer noch so lange im Badezimmer herum? Hat Yildrim seine Angst im Kindergarten überwunden? Fragen wie im deutschen Kurs.
Fatma (32), Saliha (31) und Jasemyn (30) verstehen nicht, was an ihrem Kurs so besonders sein soll. Erziehungsfragen zählten in der Türkei zu den Tagesthemen. Keine Zeitschrift, keine Zeitung, kein Fernsehprogramm, das nicht in irgendeinem Beitrag ein Erziehungsthema aufgreife. Beim DKSB werden die Mütter angehalten, ihren Kindern zuzuhören. Es wird einen Grund haben, warum Aische morgens immer liegen bleibt. Statt zu schimpfen, können sie danach fragen, mit der Aussicht auf leckeres Frühstück zu einem etwas schnellerem Aufstehtempo ermuntern. Und das alles unter Zeitdruck am frühen Morgen? »Schimpfen dauert noch länger. Das hat überhaupt keinen Zweck«, sagt Fatma.
Die Frauen sprechen mal auf Türkisch, mal auf Deutsch miteinander. Auf Türkisch werden vor allem die familiären Hintergründe besprochen - die Erwartungen der Verwandtschaft, die Verhältnisse zu den Großeltern. »Türkische Frauen grübeln viel häufiger als deutsche darüber, was andere wohl über sie denken. Um eine starke Mutter, ein starker Vater zu werden, müssen sie auch lernen, einmal ÝNeinÜ zu sagen«, sagt Saniye Özergin. Das seien Gespräche, die eben nur in einem türkischen Elternkurs geführt werden können.
Beim DKSB erwarb Özergin das Zertifikat, überhaupt unterrichten zu dürfen. Gemeinsam mit ihrem Mann Ali übersetzte sie den umfangreichen Arbeitsordner zum Kurs in die türkische Sprache: »Da haben wir sehr lange dran gesessen.« Ein Kopftuch weist Özergin als gläubige Muslimin aus: »Der Koran hat keine Probleme mit starken Eltern und starken Kindern,« sagt sie schmunzelnd.
Die Lebensperspektive der Kinder bereite den Eltern weitaus größere Sorgen. Schon heute wanderten komplette Schuljahrgänge nach dem Abschluss in die Arbeitslosigkeit - ausländische Jugendliche hätten die geringsten Chancen. Respekt, Höflichkeit, Fleiß, Disziplin, auch in der Anwendung der deutschen Sprache, seien darum sehr hohe Erziehungsziele türkischer Eltern. Deutsche Mütter und Väter würden dagegen mehr auf Selbstständigkeit und Durchsetzungsvermögen ihrer Kinder achten.
Apropos Väter. In der Stadtbibliothek sitzen ausschließlich Mütter. Wo sind denn die Herren? »Ohne die wären wir nicht hier. Sie passen zu Hause auf unsere Kinder auf,« sagt Saliha.

Artikel vom 22.02.2006