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Die Anstrengungen
führen immer zum Ziel

WB-Serie »Sportarten im Test«: Folge 3 - Judo

Von Günter Sarrazin
Warburg (WB). Auf der Suche nach dem sanften Weg liege ich in der altehrwürdigen Sporthalle des Eisenbahnersportvereins Warburg auf dem Rücken und verwende all meine Kraft darauf, mich nur mit Hilfe meines Oberkörpers vorwärts zu bewegen. Ich ziehe die linke Schulter hoch, drücke sie fest auf die Matte unter mir, um meine 90 Kilogramm irgendwie in Gang zu setzen. Ich ruckle abwechselnd mit beiden Schultern - und komme trotzdem kaum vom Fleck. »Ist das schon Judo?« schießt mir eine Frage durch den Kopf.

Judo ist eine von dem Japaner Jigoro Kano um 1880 aus der traditionellen Selbstverteidigungsart Jiu-Jitsu entwickelte Kampfsportart und bedeutet übersetzt »Der sanfte Weg«. »Kano entfernte alle gefährlichen Techniken wie Schläge und Tritte aus dem Selbstverteidigungssystem der Samurai«, berichtet Michael Schmidt, der mit bestaunenswerter Geschwindigkeit von der einen zur anderen Hallenseite robbt.
Bei dem 40 Jahre alten Familienvater mit Wahl-Heimat Welda schnellen die Schultern regelrecht hoch und wieder auf den Boden. Sein ganzer Oberkörper scheint aus Muskeln zu bestehen. Seine Kraft und sein Bewegungsgeschick müsste man haben. »Komm, mach weiter, Du schaffst das«, spornt mich der Judo-Abteilungsleiter des ESV Warburg an.
»Ziel des Judosportes ist es, den Charakter, den Geist und den Körper zu entwickeln«, habe ich in Vorbereitung auf das erste Judo-Training meines Lebens gelesen. Ich fange mit dem Körper an. Noch einmal setze ich all meine Kraft ein, um voran zu kommen. Zentimeter für Zentimeter gelingt mir, was der durchtrainierte Ausbilder vorgemacht hat. Als er nicht hinschaut, nehme ich - verbotenerweise - einen Fuß zur Hilfe, und komme schließlich ans Ziel.
Unter Kindern und Jugendlichen des ESV Warburg bin ich als Gast in einer Trainingsstunde dabei. Selbst aktiv sein, statt nur interessierter Beobachter - verschiedene Sportarten will ich ausprobieren. Diesmal Judo, ein dynamischer Freizeitsport, der in Warburg immer mehr Anhänger findet. 120 Mitglieder gehören der Judo-Abteilung des ESV Warburg an. Darunter sind 80 Aktive im Alter von sechs bis 41 Jahren.
Judo gilt als beliebt bei Kindern, weil hierbei das Bedürfnis, die Kräfte zu messen, in kontrollierter Form ausgelebt werden kann. »Es entspricht dem natürlichen Raufverhalten«, erklärt Michael Schmidt.
Ich raufe nicht, ich schnaufe nicht. Ich bin aber schon etwas ins Schwitzen gekommen - das Aufwärm-Programm macht seinem Namen alle Ehre. »Judo ist ein idealer Sport, um die Fitness zu verbessern«, denke ich, als eine Grundlage des verletzungsfreien Fallens ansteht. Die erste Judo-Übung, die ich mache, ist die Judorolle aus dem Kniestand. Ich stelle das rechte Bein auf und lege die rechte Hand zum Körper hin zeigend an die Innenseite des rechten Fußes. Meine linke Hand lege ich auf die rechte, so dass der rechte Arm mit der Schulter einen Bogen bildet. Dann rolle ich mich über den Arm und die Schulter ab. Plumps, da lande ich seitlich auf dem Boden. War zwar ein bisschen schräg, doch sogar richtig.
»Okay so. Du musst diagonal über den Rücken rollen«, erläutert Michael Schmidt, denn die Seitenlage verhindert Atemprobleme beim Landen.
Atemprobleme - habe ich nicht. Rückenschmerzen - auch nicht. Noch einmal rolle ich über den Arm. »Keinen Purzelbaum, nicht den Kopf aufsetzen«, sagt der Trainer - nicht zu mir, sondern zu einem Jugendlichen.
Der erfahrene Judoka achtet genau darauf, dass seine Schützlinge die Anfängerübung richtig ausführen, damit sie sich bei späteren Übungen und Wettkämpfen nicht verletzen. »Wann habe ich zuletzt so etwas wie einen Purzelbaum gemacht und spielerisch Sport getrieben?«, denke ich, nehme den Kopf wieder unter den Arm und rolle erneut voran. Es klappt, ich freue mich und habe soeben eine Lebens- und Trainingsgrundlage des Judo-Gründers am eigenen Leib erlebt: »Die Anstrengungen führen immer zum Ziel«, hat Jigoro Kano formuliert.
Dieser Grundsatz heißt übrigens »Chikara-Hittatsu« und die Judorolle vorwärts »Chuga-Eri«. Beides stammt - wie alle Judo-Ausdrücke - aus dem Japanischen. Überhaupt frage ich mich, ob ich einen Fremdsprachenkursus oder Sport mache. Ukemi (Fallen), Nage-Waza (Würfe) und Osae-Komi-Waza (Haltegriffe) - diese grundlegenden Technikgruppen lerne ich bei meinen Judo-Gastspielen kennen. Ja, Gastspiele. Mit einem Mal Hineinschnuppern ist es nicht getan, um geistige und körperliche Geschmeidigkeit zu erlangen, um einen Wurf auszuführen, um den sanften Weg zu erkunden.
Etwas von diesem sanften Weg ist zu Beginn jeder Übungseinheit zu spüren. Auf der einen Seite der Trainer, auf der anderen die Schüler - so gehen wir in der mit Judomatten ausgelegten Halle in die Knie. Mit dem Wort »Mokuso« ruft Michael Schmidt mit leiser Stimme zur Konzentration und Ruhe auf. »Rei« antworten wir. Beide Seiten drücken ihren gegenseitigen Respekt mit einer Verbeugung aus. Höflichkeit, Demut, Hilfsbereitschaft, Fairness - das ist ein Sport, der Werte vermittelt. Das gefällt mir. Ebenso, dass ich Neues entdecke und dass diese Sportart das Vertrauen in das eigene Können stärkt.
Ein paar Mal habe ich ihn mir angesehen - den O-Goshi, den großen Hüftwurf. Jetzt probiere ich ihn selbst. In der Ausgangsposition stehe ich ganz normal auf meinen Beinen. Ich fasse den mir gegenüber stehenden Michael Schmidt am Ärmel und auf dem Rücken seiner Judojacke, drehe mich in ihn hinein, gehe etwas in die Knie und hebe ihn über die Hüfte an. Dadurch breche ich sein Gleichgewicht. Jetzt beuge ich meinen Oberkörper nach vorn. Über meine Hüfte fällt der Judo-Meister, der mich bei der Ausführung des Wurfes kräftig unterstützt, auf die Matte, schlägt ab und hätte damit verloren - wenn es ein Wettkampf gewesen wäre.
Das war er - der sanfte Weg. Durch den richtigen Krafteinsatz im richtigen Augenblick und mit der richtigen Geschwindigkeit habe ich den helfenden Partner auf die Matte geworfen. Als ich wenig später beim O-Goshi selbst der Fallende bin, lande ich auf der Seite, rolle mich ab und lache - Judo ist klasse, Judo macht Spaß.

Artikel vom 17.02.2006