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Kaum Wärme
am Kaminfeuer

Einfühlsam gespieltes Familienstück

Von Manfred Stienecke
Paderborn (WV). Mit Rebecca Lenkiewicz' »Gezeiten der Nacht« bieten die Kammespiele ihrem Publikum eine echte Überraschung. Das Stück wurde zuvor erst auf einer anderen deutschen Bühne gespielt.

Dabei wirkt das Familienstück der britischen Theaterautorin nicht einmal sonderlich »modern«. Es erinnert in seiner erzählerischen Leichtigkeit sowie der Motiv- und Figurenwahl eher an die epischen Dramen Tschechows und knüpft an die Tradition des Realismus an. Unter der Hand von Regisseurin Irmgard Lübke ist aus der breit angelegten Theatervorlage ein feinfühliges und atmosphärisch stimmiges Gegenwartsstück entstanden.
Rebecca Lenkiewicz siedelt ihr Schauspiel in der Kleinstadt Sligo an, der Geburtsstadt des irischen Nationaldichters William Butler Yeats. Dass die Autorin seine Gedichte und vor allem seine poetische Sprache mag, lässt sich anhand der deutschen Übersetzung natürlich nur schwer ausmachen. Und so ist ihr Einfall, den Dichter in der Person des Filmschauspielers John (Daniel Sonnleithner erntet in dieser Rolle viele Sympathiepunkte) wieder auferstehen zu lassen, eigentlich nicht mehr als eine Randnotiz wert.
Viel wichtiger ist seine Funktion als Katalysator eines neuen Lebensimpulses in der Familie der Kennedys. Nicht nur Großmutter Lily leidet darunter, dass ihre einzige Tochter vor Jahren bereits den raubeinigen Ehemann Patrick und ihre drei Mädchen verlassen hat. In ihrem einfachen Landhaus, dessen kaminerwärmte Gemütlichkeit von der auf dem Küchenbord thronenden Urne der verstorbenen Schwester Kitty vertrieben wird, drohen sich auch die übrigen Familienmitglieder gegenseitig fremd zu werden.
Doch der junge unbekümmerte Großstädter bringt neuen Schwung in die trügerische Provinzidylle, in der Alkohol und Tabak den Frust betäuben. In seiner Gegenwart erblüht vor allem die von Ingrid Mirbach in ihrer agilen Schrulligkeit anrührend gespielte Großmutter zu neuem Leben. Sie, die todkranke Frau, erfüllt sich in ihrer Phantasie noch einmal längst verblasste Mädchenträume. Auch die drei bereits erwachsenen Enkelinnen entwickeln neue Trieb- und Tatkräfte mit allerdings zweifelhaftem Nutzwert, und selbst der zynische Schwiegersohn lässt wieder zarte familiäre Keime erkennen. So bleibt nach dem Tod der Großmutter zumindest die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Das atmophärisch dichte Bühnenbild schuf Andrea Kuprian. Sie löste die von der Stückautorin gestellte Aufgabe, mehrere Spielorte für teilweise nur kurze Handlungssequenzen fast filmtechnisch zu verknüpfen, durch bauliche Flexibilität und die Möglichkeit, verschiedene Szenen auch nahezu simultan zu fokussieren. Immer wieder stützt Musik, zumeist alte Schlager und nostalgische Melodien, die emotionale Tiefe des Stücks und tröstet schließlich - wie, sei nicht verraten - auch Lily über den endgültigen Verlust ihrer Tochter hinweg.
Neben den beiden Hauptfiguren - Großmutter Lily und Schauspieler John - liefern Willi Hagemeier als Schwiegersohn Patrick sowie Kerstin Westphal (Judith), Eva Mende (Rose) und Dorothee Gieseler (Maude) als Enkelinnen sehr eindringliche Charakterzeichnungen der unterschiedlichen Familien-Temperamente. Frerk Brockmeyer (Gary) als lange Zeit unentschlossener Liebhaber Judiths gefällt durch seine unaufdringliche, moderate Präsenz. Das Premierenpublikum spendete dankbaren Schlussapplaus. Kultur

Artikel vom 11.02.2006