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»Die Tante einfach abgeschoben«

Pflegebedürftige vernachlässigt: Nichten prangern familiäre Missstände an

Von Annemarie Bluhm-Weinhold
Steinhagen (WB). Weder Radio noch Fernseher, die der 93-Jährigen Unterhaltung bieten könnten, gibt es in dem Zimmer. Kein Telefon, keine Notklingel, damit die Bettlägerige im Zweifelsfall Hilfe holen könnte. Die Zustände für die Pflegebedürftige sind mehr als trostlos, sagen die drei Nichten der alten Dame.

Seit Jahren setzen sich die beiden Steinhagenerinnen und die Gütersloherin für ihre Verwandte ein. Doch vergeblich: »Wir können nichts ausrichten«, sehen sich die drei bei Sohn und Schwiegertochter der Tante, in deren Haus sie lebt, vor die Wand laufen.
Seit drei Jahren ist die betagte Steinhagenerin ans Bett gefesselt. Damals hatte sie sich den Arm gebrochen, doch mangels Bewegung baute sie in dieser Zeit mehr und mehr ab. »Sie lag oder saß nur und wurde immer schwächer«, schildert die Nichte: Mit entsprechender Förderung der Beweglichkeit hätte die Tante noch mit Gehhilfe im Garten spazierengehen können, ist sie überzeugt.
In der Verwandtschaft kam es deshalb zum Streit, denn die drei Nichten waren nicht damit einverstanden, wie die Tante behandelt wurde: »Sie ist einfach abgeschoben worden«, prangert die 62-jährige Nichte an. »Sohn und Schwiegertochter kümmern sich nicht. Nur der Pflegedienst kommt zweimal am Tag«, erklärt die Steinhagenerin weiter, die selbst ihre 96-jährige Mutter im Haus wohnen hat: »Ich weiß, was Pflege bedeutet.« Selbst am Geburtstag der Tante lässt sich aus dem engsten Familienkreis niemand sehen. »Wir kommen, und die Nachbarn auch, aber wir bringen sogar unsere Getränke selbst mit.«
Eine völlige Vernachlässigung werfen die drei Nichten ihrem Cousin und seiner Frau vor: Die Patientin werde nicht häufig genug umgelagert, was zu wunden Stellen und Spitzfüßen geführt habe, einseitig ernährt und von jeder Kommunikation abgeschnitten. Denn sogar die Besuche der Nichten und der Nachbarn habe der Sohn, der seit Ende vergangenen Jahres als Betreuer eingesetzt ist, untersagen wollen. Nur alle 14 Tage, montags zwischen 14 und 16 Uhr, habe er die Verwandtschaft bei seiner Mutter dulden wollen, ist die 62-Jährige empört: Erst mit Unterstützung des Amtsgerichts Halle war eine Regelung möglich. Nun dürfen die Verwandten montags, mittwochs und freitags kommen, stehen aber mitunter dennoch vor verschlossener Tür.
Und die Tante selbst fügt sich klaglos in ihr Schicksal: »Sie wehrt sich nicht, nimmt alles hin und sagt auch noch, es ginge ihr gut«, sagt die Steinhagenerin. Es sei enttäuschend und ungerecht, dass man nicht mehr ausrichten könne, findet sie: »Aber wir haben keinen Rückhalt etwa vom Pflegedienst und Hausarzt.«
Im Gespräch mit dem WESTFALEN-BLATT verweisen beide, Arzt wie Pflegedienst, darauf, dass die schwierige Situation vor allem ein familiäres Problem sei. »Das sind Angelegenheiten, in die ich mich nicht einmischen kann und darf«, sagt der Hausarzt: Seelische Vernachlässigung sei etwas, das nicht zu messen sei und das nur die Familie selbst abstellen könne. Denn medizinisch und versorgungstechnisch ist nach Auskunft des Arztes alles in Ordnung: »Wenn etwas nicht rechtens ist, dann kann ich einschreiten. Aber hier kann man als Außenstehender nicht mehr machen.«
Und als Pflegedienst könne man erst einmal nur das leisten, was auch der Auftrag vorsehe, sagt dessen Geschäftsführer. Er erklärt, dass die Pflegekräfte aus dem Vergleich mit anderen Patienten, die sie betreuen - 110 sind das in Steinhagen -, sowie aus ihrem Fachwissen heraus die Möglichkeiten, die die physische Verfassung und das Potential in Bewegung und Wahrnehmung zulassen, auch realistisch beurteilen können. Zudem sei man interessiert daran, die Angehörigen zusammen und zum Gespräch zu bringen, denn unterschiedliche Auffassungen darüber, was gut und möglich für den Patienten sei, gebe es natürlich in den Familien. »Wir haben hier alles in unserer Kraft stehende getan«, sagt er. Aber als aussichtslos beurteilt er die Situation nicht: »Wenn es irgendwo keine Verbesserungsmöglichkeiten mehr gibt, dann könnten wir einen Vertrag auch kündigen. Hier aber sind wir dabei geblieben.«

Artikel vom 10.02.2006