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Ein Abend in Moll mit schwerer Kost

43. Haller Bach-Tage: Musik und Verse zum düsteren Kapitel deutscher Geschichte

Von Klaudia Genuit-Thiessen
Halle (WB). Ein Abend in Moll. Das Thema »Verfolgt und auserwählt« schlug am Dienstag im Rahmen der 43. Haller Bach-Tage ein düsteres Kapitel der deutschen Geschichte auf - in Musik und Recitation im Storck-Treffpunkt.

Ein intimer Rahmen, festliche Kammermusik, dargeboten vom Nomos-Quartett - ein Name, der schon anspielt auf die inneren Strukturen komplexer musikalischer Werke, wie sie auch in Halle zu hören waren. Die Schauspielerin Barbara Michel eröffnete den Abend mit einer Reihe von Gedichten jüdischer Autoren. »Vertriebene sind wir, Verbannte«: Wer auswanderte, entging zwar der Verfolgung, hatte jedoch einen hohen Preis zu zahlen. Franz Werfel schrieb über die Fremdheit, das »Erzgefühl seines Lebens«. Berthold Viertel beklagte den Verlust der Sprache. »Wir haben keinen Freund auf dieser Welt, nur Gott. Den haben sie mit uns vertrieben«, trauerte Mascha Kaléko schon 1938, während Gertrud Kolmar kleine, böse Menschen mit hämischen Augen giftiges Bilsenkraut sammeln ließ . . .
Melancholisch stimmten die drei Bachfugen in diesen Tenor ein, Fugen, die erst Freitag auf der Heintz-Orgel zu hören waren, jetzt jedoch einen gänzlich anderen Charakter annahmen. Martin Dehning und Sonja-Maria Marks (Violine), Friederike Koch (Viola) und Sabine Pfeiffer (Violoncello) spielten auch die letzte, unvollendete »Fuge über drei neue Themen« - wobei die Streicher sich erst ein wenig zusammenfinden mussten. Gleichwohl anrührend der Abschluss der berühmten Fuge: In aller Süße erklingt das letzte Thema aus den Tönen B-A-C-H, und dann bricht die Musik plötzlich ab. Die Streicher lassen die Bögen sinken.
»Rufe im Dunkel« überschrieb Barbara Michel den zweiten lyrischen Bogen des Abends, »Verse zwischen der ein oder anderen Erschütterung«, von denen der Dichter Waldyslaw Szlengel spricht. Scheinwerferlicht statt Sterne, Lügen. Die Zuhörer unternahmen mit Georg Mannheimer einen »Gang durch die Via Dolorosa«, die Straße der Schmerzen und hörten die beeindruckende »Hymne der zurückgebliebenen Schuhe« von Moishe Schulstein - ein Gedicht, das dem Berg von Schuhen im Vernichtungslager Majdanek gilt, einer »Armee von letzten Zeugen«.
Nur mit einer einsamen Violine, ganz zart und langsam setzte Dmitrij Schostakowitschs faszinierendes Streichquartett No. 8 op. 110 ein - ahnungsvoll das Unheil verkündend, das im nächsten Satz sozusagen in Siebenmeilenstiefeln und mit einigen nationalrussischen Elementen daher kommt, allmählich wieder langsamer wird und das Anfangsthema aufgreift.
In dem den Opfern von Faschismus und Krieg gewidmeten Konzert erzählte der Komponist musikalisch auch von seinem eigenen Schicksal. Nach frühen Erfolgen galt er eine Zeit als einer der führenden Komponisten der Sowjetunion, obwohl er Anregungen der westeuropäischen Moderne aufgegriffen und in seinem experimentierfreudigen Werken verarbeitet hatte. Doch genauso plötzlich fiel er als dekadent und formalistisch in Ungnade. Das achte Streichquartett gehört zu den bemerkenswerten Werken, die nach 1953, nach Stalins Tod entstanden sind.
Der dritte Gechichtzyklus stand unter dem Thema »Wir Geretteten« nach Versen von Nelly Sachs. Und wieder fanden die Dichter Worte für die Sprachlosigkeit angesichts der Ereignisse. Noch einmal Mascha Kaléko: »Bedenkt: Den eigenen Tod, den stirbt man nur. Doch mit dem Tod der andern muss man leben«. Mit Beethovens Streichquartett B-Dur op.130 einschließlich der kompromisslos-radikalen »Großen Fuge« klang ein Abend mit großer Musik aus. Musik, die nicht weniger aufwühlte als die Texte der jüdischen Autoren aus den Jahren der Verfolgung.

Artikel vom 09.02.2006