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Mit 100 beste Kundin
in der Stadtbücherei

Helene Tomanschefsky steckt noch voller Abenteuerlust

Halle (pes). Das Gehör lässt sie hin und wieder im Stich, die Augen aber sind noch ebenso wach wie ihr Geist und ihr Gedächtnis. Und wenn Helene Tomanschefsky ins Erzählen kommt, könnte man ein Buch davon schreiben. Immerhin hat sie heute genau 100 Lebensjahre hinter sich - und eine ganze Menge erlebt.

Ihr Wunschberuf blieb der in Landsberg, dem heute zu Polen gehörenden Zantoch, geborenen Kaufmannstochter leider versagt: Archäologin wollte sie werden, aber für Mädchen war eine Berufsausbildung damals noch völlig unüblich. Stattdessen wurde mit 19 Jahren geheiratet. 1926 kam der älteste Sohn zur Welt, 1928 die erste Tochter und 1945 die zweite - Nachzüglerin Jutta. Die Familie lebte inzwischen in Berlin, der Vater steckte in der Wehrmachtsuniform und Helene Tomanschefsky brachte ihre beiden Kinder alleine durch in der ständig durch Bombenangriffe erschütterten Hauptstadt.
Gerade mit ihrer Jüngsten verband und verbindet die Jubilarin eine ganz besondere Mutter-Tochter-Beziehung. Beide packt leicht das Fernweh, beide haben eine gewisse Abenteuerlust - und so kam es in Juttas Jugend mehrfach vor, dass Mutter und Tochter sich mit Rucksack und Reisetasche an die Avus stellten - und per Anhalter nach Paris oder Brüssel aufbrachen. Erlebnisse, die bis heute verbinden, denn obwohl Tochter Jutta, die inzwischen mit Nachnamen Roidis heißt, am Goethe-Institut in Thessaloniki arbeitet, kommt sie mehrmals im Jahr nach Halle in die Wohnung am Sandkamp. Ansonsten ruft sie täglich einmal aus Griechenland an. Auf beiden Seiten der Leitung wird jemand nervös, wenn die Verbindung mal nicht pünktlich zustande kommt.
1974 war das Ehepaar Tomanschefsky von Berlin aufs Land gezogen, nach Halle. Schon 1980 aber verlor die abenteuerlustige Frau ihren Mann, mit dem sie fast alle Kontinente besucht hatte - und ging fortan ihrer Leidenschaft, dem Reisen, allein nach. Noch bis vor zehn Jahren hat die Mutter selbst nach dem Rechten geschaut, wie der älteste Sohn in den USA und die Tochter in Griechenland lebt. Jeweils drei Monate pro Jahr verbrachte sie in Amerika und Griechenland, flog und fuhr immer ganz allein.
Die Mobilität allerdings hat zwangsläufig etwas nachgelassen. Helene Tomanschefsky ist auf ihre Pflegerin angewiesen, wenn sie in Halle etwas besorgen muss, und auf ihre Tochter, wenn sie mal heraus will aus den eigenen vier Wänden. Von Jutta Roidis gibt es in jedem Sommer eine kleine »Wunschreise« oder einen längeren Ausflug als Geschenk.
Langeweile kennt die 100-Jährige aber auch in den vielen Tagen dazwischen nicht. Denn ihre zweite Leidenschaft ist das Lesen. 500 Bücher hat sie selbst in Regalen und Schränken stehen, außerdem ist sie die beste Kundin in der Haller Stadtbücherei. Zehn Bände leiht sie jeweils aus und gibt sie pünktlich nach vier Wochen gelesen zurück. Am liebsten Abenteuerbücher, Reiseberichte - und Schriften über den Dalai Lama, den sie hoch verehrt. Und bei dem, was sie - nach einem Kursus in Schnelllesen - am laufenden Band durcharbeitet, kann Helene Tomanschefsky durchaus mitreden. Früher hat sie selbst, unter dem Pseudonym Hela Schlösser, unter anderem für die Berliner Morgenpost, das Neuruppiner Volksblatt und andere Zeitungen als freie Mitarbeiterin Märchen und Erzählungen für Kinder und Erwachsene verfasst.

Artikel vom 01.02.2006