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Betroffenes Schweigen im Jugendhaus

»Vier Schüler gegen Stalin« gezeigt - »Wer miteinander spricht, schießt nicht aufeinander«

Von Bernd Steinbacher
(Text und Fotos)
Schloß Holte-Stukenbrock (WB). Der Film lässt niemanden kalt. Nach dem Ende von »Vier Schüler gegen Stalin« herrschte im Jugendhaus Wadi erst einmal betroffenes Schweigen. Es dauerte eine Weile, bis Fragen kamen.

Im Wadi wurde am Freitag Abend der Film gezeigt, der vom Widerstand gegen Stalin und seine Diktatur erzählt. Gerhard Schmale hatte damals als Schüler im thüringischen Altenburg den Funksender gebaut, um die Festansprache Wilhelm Piecks zum 70. Geburtstag Stalins zu stören. Mitschüler Joachim Näther sprach am Abend des 20. Dezember 1949 stattdessen von Stalin als Massenmörder und von der Inhaftierung von Tausenden Unschuldigen. Näther bezahlte dafür mit seinem Leben, die anderen verschwanden mehrere Jahre im Gefängnis.
Der Film zeichnet das Schicksal nach, erzählt von Verhören, von grausamen Verhalten der Staatssicherheit und des russischen Geheimdiensts, erinnert an den Widerstand der Schüler. Das WESTFALEN-BLATT berichtete am Freitag ausführlich.
Die Bilder sprechen für sich, doch die größte Wirkung entsteht, wenn die Betroffenen wie Jörn-Ulrich-Brödel, Gerhard Schmale oder die Schwester des durch Erschießen hingerichteten Joachim Näther erzählt, was ihnen damals durch den Kopf ging, wie sie ihre Zeit erlebten.
»...einige greifen der Geschichte in die Speichen und brechen sich dabei die Pfoten ab...«, hatte Näther geschrieben. Der intellektuelle Kopf der Schülergruppe wurde in Moskau hingerichtet, doch sein Schicksal wurde erst 1997 bekannt. Die Archive in Russland wurden nach und nach geöffnet.
»Ich durfte erst ein Jahr nach meiner Verhaftung im Frühjahr 1950 meiner Familie schreiben«, berichtete Gerhard Schmale. Vor Filmbeginn hatte er eine kurze Einführung gegeben, um die damalige Zeit zu erhellen. »Wir waren bei Kriegsende knapp 13 beziehungsweise 14 Jahre alt, sollten noch Altenburg verteidigen«, so Schmale. Dazu sei es nicht mehr gekommen, weil der Bürgermeister den Befehl nicht befolgt habe.
Erst kamen die Amerikaner, nach dem Berlin-Abkommen im Juli 1945 die Russen. »Es hat keine drei Tage gedauert, dann begannen die Massenverhaftungen«, so Schmale. Auch sein Vater kam ins ehemalige Konzentrationslager. Diese Lager wurden wieder voll. »Das zu verarbeiten, war eine schwierige Sache.« Nach seinen Worten hat er damals von den Konzentrationslagern während der Nazizeit nichts gewusst, es gab keinen freien Rundfunk zu empfangen, die Technik fehlte. Er geht davon aus, dass wirklich viele nichts gewusst haben. Doch wer in der DDR behauptet, von den Verbrechen und Unterdrückungen zu DDR-Zeiten nichts gewusst zu haben, der sage nicht die Wahrheit. West-Radio und West-Fernsehen waren zu empfangen, nur beim Fernsehen gab es im Raum Dresden, dem »Tal der Ahnungslosen«, keine Möglichkeit. Die Gründung der Jugendorganisation »Freie Deutsche Jugend« war damals für ihn eine »Riesenfreude«, man musste schwören, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen. »Doch keine eineinhalb Jahre später war es damit vorbei.
Schießzirkel entstanden«, erinnerte sich Gerhard Schmale. Es dauerte nicht lange, und Uniformen tauchten wieder auf - die Gesellschaft für Sport und Technik wurde gegründet (GST). Deshalb reifte in den jungen Leuten damals der Gedanke »Wir müssen etwas dagegen tun«. Der Widerstand gegen die Diktatur begann mit dem Kleben von Plakaten mit einem großen »F«. Der Buchstabe stand für Freiheit und Feindschaft gegen das Sowjetsystem. Initiiert war die Kampagne von der »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« in Berlin. Höhepunkt des Widerstands der Schülergruppe war die illegale Radiosendung. Schmale betonte mehrfach, dass nicht nur die vier, sondern etwa 20 Schüler, Lehrer und eine Ärztin sich in Altenburg gegen das System wendeten. Insgesamt wurden sogar vier Mitstreiter hingerichtet.
Schmale baute damals den Sender, und das Funken hat ihn nicht losgelassen. Seit 45 Jahren bildet er Amateurfunker aus. »Wer miteinander redet, schießt nicht aufeinander«, ist er überzeugt. Das Funkgerät von damals hat er übrigens in 522 Stunden mühevoller Kleinarbeit aus Originalteilen erneut gebaut. Es steht jetzt im Haus der Geschichte in Leipzig.
Den jungen Leuten bringt er nicht nur Funken bei, er erläutert ihnen das technische Wissen und erzählt dabei oft seine ganz persönliche Geschichte. »Die DDR war eine Diktatur. Statt der Gottheit Hitler gab es die Gottheit Stalin. Wir müssen den jungen Leuten klar machen, was Diktatur bedeutet«, sagte der 73-Jährige. Deshalb wird er auch als Referent beim Bautzen-Forum 4./5. Mai dabei sein. Die Organisation bemüht sich um Aufklärungsarbeit über die DDR-Vergangenheit.
Nach seiner Freilassung im August 1956 verließ Gerhard Schmale die DDR, arbeitete viele Jahre in Sennestadt und lebt seit 1994 in Schloß Holte-Stukenbrock.
Der Film wird am heutigen Montag noch einmal zu sehen sein. Die Sendung im WDR beginnt um 23.15 Uhr.

Artikel vom 30.01.2006