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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Christoph Freimuth


Ein Stück Verl ist verschwunden. Nur noch ein einsamer Trümmerhaufen erinnert an den ehemaligen Disco-Markt. Zu Beginn des neuen Jahres rollten die Baufahrzeuge an und rissen das Gebäude ab. Am Baustellenzaun standen immer ein Reihe von Schaulustigen, die genau zusahen.
In der Tat war es faszinierend zu sehen, wie ein Bagger mit einer riesigen Zange ganze Stahlträger und große Betonteile herausbrach. Oder morgens, wenn es noch dunkel war, den Funkenflug beim Zerschneiden der Stahlträger zu beobachten.
Wir sind auch mal mit unserem Sohn dahin. So viele Bagger auf einmal waren da zu sehen. Aber das Ganze hat offensichtlich nicht nur technikbegeisterte Kinder fasziniert. Menschen jeden Alters standen am Bauzaun und schauten zu.
Warum schauten die Menschen zu? Gewiss war es der technische Krafteinsatz, der faszinierte. Vielleicht war auch ein Stück Wehmut dabei, dass etwas, was man viele Jahre lang kannte, nun abgerissen wurde.
Beim Vorbeifahren kam mir ein Spruch aus der Bibel in den Sinn: »Ein jegliches hat seine Zeit (...), abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit.« Dieser Satz stammt aus dem Buch Kohelet. Um dieses biblische Buch ging es auch in der diesjährigen ökumenischen Bibelwoche. Dieses eher unbekannte Buch der Bibel ist für den heutigen Menschen überaus spannend. Kohelet beschäftigt die Frage, wie ein Mensch in all der Vergänglichkeit bleibendes Glück finden kann. Wie kann Leben gelingen? Manches, was er da rät, hört sich an wie in modernen Lebensratgebern. An einer Stelle denkt er darüber nach, dass alles seine Zeit hat. Es gibt eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen, eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen. Alles hat seine Zeit, seine richtige Stunde. Er verknüpft immer Positives und Negatives, denn beides gehört zum Leben dazu. Als Menschen leben wir in diesen Polaritäten, in dieser Spannung. So hat Gott das Leben geschaffen und eingerichtet. Wenn alles nur positiv wäre oder alles glatt liefe, wäre das Leben langweilig und weniger lebendig.
In diesem Zusammenhang kommt Kohelet auf den Gegensatz von Abreißen und Aufbauen zu sprechen. Auch das hat beides seine Zeit, seinen sinnvollen Platz in einem Leben. Dieser Gedanke irritiert. Was soll am Abreißen sinnvoll sein? Klar, Aufbauen ist positiv besetzt. Es ist durchaus ein Ziel im Leben, etwas aufzubauen, eine Existenz zu gründen, ein Haus zu bauen, etwas das bleibt. Aber das Gegenteil, etwas abzureißen oder etwas aufzugeben, fällt uns schwer.
Aber manches, was uns nur negativ erscheint, kann zur richtigen Zeit genau richtig und sinnvoll sein. So wie wenn man einen Garten umgestalten will, dann muss man zunächst auch ganz viel altes Gehölz herausreißen.
Es ist eine wichtige Lebenserfahrung, auch etwas loslassen zu können, denn am Ende unseres Lebens müssen wir alles loslassen. Neues kann ich erst wagen, wenn ich Vergangenes ausgerissen habe. Kohelet als Weisheitslehrer ermutigt dazu, sich auch von etwas zu trennen. Vielleicht dem Pullover, der schon seit zehn Jahren ungenutzt im Schrank liegt. Oder auch im Blick auf Beziehungen, alte eingefahrene Beziehungsmuster abzubrechen, um neue aufbauen zu können. Oder im Berufsleben alte Brücken und Sicherheit abzureißen, und Neues zu wagen, zum Beispiel den Wechsel der Arbeitsstelle oder den Schritt in die Selbstständigkeit.
Die Gedanken des Kohelet laden ein, über die Polaritäten im eigenen Leben einmal nachzudenken. Vielleicht erinnert Sie die Baustelle am ehemaligen Disco-Markt daran, wo in Ihrem Leben Abbrechen oder Aufbauen seine Zeit hat.
Ihnen einen gesegneten Sonntag,
Ihr Pfarrer Christoph Freimuth

Artikel vom 28.01.2006