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Anna stand mit gesenktem Kopf, in der einen Hand den gerafften Reitrock, in der andern die Peitsche, und sie hob langsam und traurig das Gesicht zu ihm.
Es war ein scheuer, gütiger Kuß; denn das Unerklärliche, warum Anna nicht seine Frau werden wollte, hatte Walters Liebe zu ihr in eine schwärmerische Ehrfurcht verwandelt.


Elftes Kapitel
Die letzten Haferstiegen waren eingefahren. Nur die Rüben standen noch in ihrem blanken Kraut und das stumpfe, dörre Rauhfutter in Stiegen. Das Land dehnte sich suchend in seiner Leere. Die Alleen und kleinen Gehölze, die sich im Sommer hinter die hohen Kornfelder geduckt hatten, erhoben sich wieder aufrecht in ihrer dunklen Gestalt an den Hängen, und die breiten schwarz-weißen Fachwerkhöfe guckten zwischen den Eichen vor, hell und gradlinig.
Anna ging schon früh am Morgen in den Park und hinaus über das Land, wenn das hohe, späte Gras noch unbeweglich stand und überwältigt vom vielsilbrigen Tau, wenn an den Brombeerhecken eben die Spinnweben anfingen, in die matte Sonne zu blinzeln. Oder sie ging gegen Abend auf den Kamp, wo sie über die Heide gehen konnte, und setzte sich oben am Waldrande auf eine der großen trockenen Wurzeln, die dicht an den Stämmen bloßlagen. Und sie schaute über die Ebene mit traurigen Augen, als wollte sie den Herbst nicht. Denn sie konnte noch nicht wissen, daß dies Land jetzt erst seiner ureignen Schönheit entgegenruhte.

W
enn der erste Frost darüber hingegangen war, dann offenbarte sich dieses Land. Wenn die Wiesen vor den Gehölzen nicht mehr leuchteten wie von unerfüllbarer Sehnsucht, wenn der braune Acker sich für die nächste Reife ernst und willig vorbereitete, wenn die Nebel, die flattrig in zufälligen Phantasien tanzten, mühsam und langsam über den kalten Boden schlichen É
Schwer und einsam ist dies Land in seiner ureignen Schönheit; nur die ungelenken schwarzen Raben halten ihren dunklen Rat, und die unversöhnlichen Winde jagen über das Blachfeld É

N
och standen die Gehölze in mannigfarbenem Laub, und ein feiner blauer Dunst vom Himmel lag auf den Anhöhen, und in den Gründen stand hie und da ein dicker Rauch von den Kartoffelfeuern, die scharf duftend niedrig über das Feld schwelten.
Anna saß Stunden um Stunden und schaute darüber hin, als gäbe es nichts mehr für sie zu tun, als über das Land zu blicken und über die Liebe zu sinnen.

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ie dachte nicht nur an Walter mit traurigen Gedanken, weil er nun im Manöver bei langen Ritten Heimweh nach ihr hatte (was er ihr auf der Rückseite eines Meldezettels schrieb), oder beim feuchten Biwak - wo er gewiß recht frieren mußte - sondern weil auch sie ihn vermißte.
Sie dachte sich noch einmal all die vergangenen Tage aus, wie sie waren oder wie sie hätten sein sollen, und jetzt erst wußte sie, wie schön diese Zeit gewesen und wie schön es war, daß Walter sie liebte. Und all die vielen Erzählungen, die sie langweilten, hatte sie vergessen über dem letzten Abschied in der Waldwiese, der von ferne immer geheimnisvoller wurde - von dem nur Loki wußte und die wilden Tauben, sonst niemand, auch Erli nicht.

U
nd Anna sann und sann über die Liebe, die sich groß und unerforschlich vor ihrer Seele ausbreitete, wie die Heide mit dem herben Duft, die, solange sie blühte, leuchtete, daß die warme Luft von ihrem Staube flimmerte, jetzt aber sich dehnte, wie der Himmel so weit in ihrem ernsten Dunkel.
Es war kein Mensch sichtbar weit und breit. Nur drüben auf dem Kamp, in großer Ferne, hob sich als Wahrzeichen der Einsamkeit die mächtige Gestalt des Schäfers vom gelben Himmel ab. Trotz seines aufgeregten Mantels, den der Wind faßte, blieb er selbst in unbeirrter Ruhe, hoch aufgereckt zwischen Himmel und Erde.
Aber auch zu ihm ging Anna jetzt nicht, wie sie früher als Kind getan hätte. Sie mußte allein sein und alles betrachten, was vor ihr in der großen Ferne lag.
Niemand wußte, daß es die Liebe war, der sie mit dunklen, fragenden Blicken nachschaute, weit über die heidigen Hügel hinaus.

N
ur Karoline wußte es. Sie hatte Anna so forschend aus ihren tiefliegenden Augen betrachtet, daß sie schnell den Blick senkte; aber Karoline hatte schon gesehen.
Karoline wußte aber auch nicht mehr von der Liebe als Anna.
Nun lag der Tag weit zurück, da Karl Stodiek wiederkam, als der Roggen geschnitten war und in Garben stand. Er sah sie schon von weitem, wie sie mit ihren Leuten den Erntewagen auflud, während ihr ältester Junge, »de lütte Buer«, wie sie ihn nannten, mit selbstbewußter Peitsche von Stiege zu Stiege lenkte.
Karl Stodiek sah Karolinens kräftige Bewegungen beim Aufladen und wie sie nicht abließ von der Arbeit, so heiß es auch war. Karl Stodiek schlug das Herz; ob sie wohl mitkäme? Er mußte einen Augenblick vor diesem Zweifel stehen bleiben und zusehen. Aber er ging doch, denn er war fromm und glaubte an die starke Liebe.
Aber es wäre besser gewesen, umzukehren, denn es gab Stärkeres als die Liebe; er mußte die Mütze in seiner Hand sehr fest in den Fingern zusammenpressen, als Karoline ihm sagte, sie könnte den Hof nicht hergeben; den hätte sie wieder heraufgearbeitet, als Nordkämper ihn hatte verkommen lassen; nun müßte er für ihre Kinder bleiben, denn das wären richtige Bauern. Sie sagte es mit einem so verschlossenen, unerschütterlichen Gesicht, daß sie beinahe hochmütig aussah, die feine, sanfte Karoline. Und es wäre für Karl Stodiek besser gewesen, umzukehren, als er sie beim Erntewagen sah É
Mit der Zeit überkam Anna eine große Scham darüber, daß sie sich so sehr von der Liebe hatte stören
lassen in all ihrem ernsthaften tüchtigen Vorhaben; solch eine Scham, daß wohl vorm nächsten Abendmahl die ganze Liebe herausgeräumt werden mußte aus ihrer Seele, damit wieder Raum wurde für das andere, Wichtige, was irgendwo hinter klugen, unbequemen Höhen auf sie wartete.

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ber die Liebe kam immer wieder mit neuen Störungen dazwischen. Wenn es auch nie mehr die Richtige war, sowie sie sich die Liebe dachte, mit blühendem Heidekraut und geheimnisvollem Abschied - das war und blieb einzig die mit Walter - aber wie sie auch kam, stets brachte sie Störung mit sich.
Besonders, wenn zuweilen die Mütter in Mitleidenschaft gezogen wurden und sich weinend in die Arme sanken, weil eine ihnen so ersehnte Verbindung nicht zustande kam. Man mußte sich genieren, wie man dabei stand und keinen tieferen Gedanken aufbringen konnte als den Wunsch nach Beendigung dieses peinlichen Augenblickes.

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ing ihr Tischherr nur an, bei einem Diner von Peter Camenzind zu reden, dann kannte sie schon die Folgen. Man wußte ja, daß Anna sich für »allerleihand« interessierte. Darum lasen die Herren vor solch einer Gesellschaft den Peter Camenzind, der mit einer Besprechung der Tageszeitung in Velhagen & Klasings Schaufenster lag - damit sie über die poetischen Reize darin mit ihr reden konnten, die ihnen sonst nur lästig waren.
So ging es mit dem schönen Friedrich vom benachbarten Hilverdinsen, der wochentags seine Leute auf dem Hofe anschimpfte mit einer scharfen Stakkatostimme und Sonntags ausgezeichnete Manieren hatte.

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a, wäre es sein Vater gewesen, der alte Clamor! Zwar hatte Anna früher Angst vor ihm, weil er immer sagte, es wäre einfach unanständig, verlegen zu sein - und wie sollte sie das wohl machen, nicht verlegen zu sein! - aber er war ein Mann von liebenswerten Eigenschaften. Zum Beispiel hatte er den sogenannten Morgenkoller, der bei Landwirten öfter vorkommt. Die Leute wußten genau, wenn sie früh auf den Hof kamen, daß jeder erst seine Schimpfe abkriegte; dennoch wären sie für ihn durchs Feuer gegangen; denn wenn er seinen Morgenkaffee getrunken hatte, war nichts mehr zu befürchten.
Sein Sohn hatte keine derartig liebenswerte Eigenschaft; darum wollte Anna ihn auch nicht heiraten.
Waren die Störungen, die von dieser Art Liebe herrührten, gerade nicht schwer und nachhaltig, so dauerte es doch immerhin einige Zeit, sie zu überwinden. Wenn man sich auch zur schnelleren Beruhigung sagte: »Ich konnte nichts dafür«, so hatte man doch ab und zu gemerkt, daß man sehr nett gefunden wurde, und war noch ein klein bißchen netter. Und das hätte nicht sein dürfen.

A
nna fing an, ihre freundliche Meinung über die Liebe zu ändern. Sie machte den Kopf untauglich für Denken und Wissen, sie hinterließ ein, wenn noch so kleines, Schuldgefühl, und sie war unentrinnbar. Selbst in Italien - wohin sie Vaters Gicht wegen im Frühling reisen mußten - auch da schickte ihr der Herr vom Nebentisch Blumen und lief noch nach Mitternacht auf den Pharo, weil Anna dort gern bei Luigi, dem alten Turmwächter, saß und zusah, wie die großen Wellen am Felsen brandeten.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.02.2006