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»Politik zum Nachteil der Jugend«

Auch Kinderärzte schließen Mittwoch ihre Praxen - Notdienst eingerichtet

Von Elke Bösch
Kreis Minden-Lübbecke (WB). 13 Kinder- und Jugendärzte aus dem Kreis Minden-Lübbecke schließen an diesem Mittwoch ihre Praxen. »Aus unserer Sicht ist der Ärzteprotest mit Groß-Demo in Berlin, regionaler Demonstration in Lübbecke und Praxisschließungen voll gerechtfertigt«, sagt Dr. Wolfgang Adam. Der Kinderarzt aus Rahden ist Obmann für Minden-Lübbecke und Herford.

Adam sagt: »Meine Kollegen und ich stimmen den Aussagen unseres Präsidenten Dr. Wolfram Hartmann voll zu. Wir befinden uns durch die Gesundheitsreform und ihre Folgen in einer regelrechten Ethik-Falle, denn«, so zitiert Adam den Präsidenten, »die Medizin kann immer mehr leisten, jedoch wir als Ärzte müssen täglich immer häufiger abwägen, wer wie viel an medizinischen Leistungen erhalten darf. Für Kinder- und Jugendärzte ergibt sich daraus ein massiver Konflikt.« Die politischen Entscheidungen sieht Adam im Widerspruch zu Beteuerungen der Politiker, Kinder und Jugendliche besonders in der kinderarmen Zeit fördern zu wollen.
Für Dr. Adam und seinen Berufsstand sind die Konsequenzen absurd: »Falls wir für unsere kleinen Patienten zu viel tun, sollen wir bei Medikamenten und Sprachheiltherapie, Krankengymnastik und Ergotherapie gegebenenfalls selber zahlen, das heißt in Regress genommen werden.«
Dr. Adam und sein Partner Michael Reifenscheid nennen Beispiele: »Ein Kind, das an einer Mittelohrentzündung erkrankt ist, benötigt in der Regel ein Antibiotikum. Nun müssen wir schon vorbeugend unser Budget im Auge behalten. Denn alles, was bei uns mehr ausgeben wird als im Durchschnitt aller Kinderarztpraxen, kommt auf den Prüfstand. Gegebenenfalls muss die Praxis Geld zurückzahlen. Da kommen schnell 70 000 bis 80 000 Euro in einem Jahr zusammen. Also schreiben wir statt eines teuren Antibiotikums, das 25 Euro kostet, ein preisgünstiges für zehn Euro auf.« Dieses müsse jedoch häufiger verabreicht werden, weil es nicht dieselbe Wirkung erziele. Folge: Die Gefahr, gegen Antibiotika eine Resistenz zu entwickeln, steige. »Die Behauptungen von Krankenkassen und Politik, dass es keinen Unterschied in der Wirkung gibt, stimmt einfach nicht«, sagt Wolfgang Adam. »Und es gibt dafür noch viel mehr Beispiele«, betont der Kinderarzt, der wie sein Kollege Reifenscheid auch nicht verstehen kann, warum Kinder bis zu zwölf Jahren Hustensäfte und andere nicht verschreibungspflichtige Medikamente umsonst erhalten, die Eltern von 13-Jährigen diese aber voll bezahlen müssen.
»Diese Politik ist unhaltbar und muss sofort abgeschafft werden. Bundesweit werden 30 Prozent der ambulanten ärztlichen Leistungen nicht adäquat honoriert, so dass Entlassungen von Arzthelferinnen und anderem Personal droht und die bislang gute Qualität unserer ambulanten Versorgung auf dem Spiel steht.« Die Probleme an den Krankenhäusern mit unzumutbaren Arbeitsbedingungen der dort tätigen Ärzte stehe auf der Tagesordnung. Immer mehr Patienten und Leistungen bei sinkender Entlohnung ist nicht mehr hinzunehmen. Ein Drittel der Praxisleistungen wird zurzeit nicht bezahlt.«
Als besonders bedenklich beurteilen Dr. Adam und Dr. Reifenscheid auch, dass ein Kinderarzt aus Bielefeld bereits 100 000 Euro Regress zahlen sollte, weil er das von den Krankenkassen diktierte Budget überschritten habe. Zwei weiteren Kollegen in der Region drohten ebenfalls massive Rückzahlungen. Eine Kinderärztin im Kreis Herford habe ihre Praxis bereits geschlossen. »Wir verschreiben nicht mehr Medikamente oder Behandlungen, um reicher zu werden, sondern weil wir unseren kleinen und jungen Patienten so effektiv wie möglich helfen wollen«, sagt Wolfgang Adam. »Aus diesen Gründen streiken wir für unsere Kinder und jugendlichen Patienten, denn nur gesunde Kinder haben eine Zukunft.« Und Adam spart nicht mit Kritik an der Pharmaindustrie. »Sie und die Apotheken sind die Gewinner der Gesundheitsreform. Warum müssen die selben Medikamente in Deutschland weit teurer sein als in anderen europäischen Ländern?«
l Am 18. Januar, gibt es nur eine Notfallversorgung im Kreis. Welche Notfallpraxis zuständig ist, ist über Anrufbeantworter in den Praxen der Kinder- und Jugendarztes zu erfahren.
l Der Bad Oeynhausener Ärzteverein will sich an diesem Montag zu den Maßnahmen am Streikmittwoch äußern.

Artikel vom 14.01.2006