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New Yorks Herz steht still

Das einstige Künstlerviertel Greenwich gehört heute den Bankern

Von Christoph Driessen
New York (dpa). New Yorks einstiges Künstlerviertel Greenwich Village ist schon oft abgeschrieben worden - aber noch nie so einhellig wie jetzt.

Nur Gedenktafeln erinnern noch daran, dass hier früher Schriftsteller wie Mark Twain, Edgar Allen Poe, Herman Melville (»Moby Dick«), Ernest Hemingway und John Steinbeck gewohnt haben oder Musiker wie Bob Dylan. Heute können sich rund um den Washington Square nur noch Hollywoodstars und andere Multimillionäre einmieten. »Das Village stirbt«, warnt das Lokalblatt »Village Voice«, und der britische »Observer« titelt: »New Yorks Herz schlägt nicht mehr.«
Schon die Straßenführung zeigt den Widerstandsgeist dieses einzigartigen Teils von Manhattan: Krumm und schief ist sie, denn als zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Gitterrost schnurgerader Straßenzüge über die Halbinsel gelegt wurde, führte »das Dorf« schon ein zu ausgeprägtes Eigenleben, um sich einverleiben zu lassen. Die Straßen und Gassen, die entlang alter Indianerpfade und den Feldergrenzen holländischer Kolonisten verlaufen, haben hier Namen, keine Nummern, die Bebauung ist niedrig. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Viertel zum Anziehungspunkt von Künstlern, Exzentrikern und Homosexuellen, gefolgt von Kriegsgegnern, Hippies und Beat-Barden. 1969 kam es auf der durch Greenwich verlaufenden Christopher Street zum Aufbegehren der Homosexuellen gegen Razzien der New Yorker Polizei.
In dieser Zeit besang Paul Simon die Flaniermeile Bleecker Street: »Thirty dollars pays your rent« - 30 Dollar reichen für die Miete, hieß es damals. Heute bekommt man dafür noch nicht mal ein Mittagessen. »Es hängt alles an den Mieten«, sagt Karen Kramer, die einen viel beachteten Film über die Geschichte des Viertels gedreht hat. »Es ist eine Ironie der Geschichte, dass man heute zu den oberen Zehntausend gehören muss, um sich eine Wohnung im Village leisten zu können. Das Village ist heute sehr homogen - ein schrecklicher Verlust.« Der kanadische Künstler David Altmejd, der ein Studio außerhalb der Stadt hat, sagt: »Ich weiß von keinem einzigen Künstler mehr im Village.« Stattdessen kamen Banker, Anwälte und Studenten aus Millionärsfamilien.
Filialen der Starbucks-Kette ersetzen alteingesessene Cafés. Der Rasen auf dem Washington Square - einem ehemaligen Friedhof deutscher Einwanderer - soll mit einem Eisenzaun geschützt werden. Touristen rücken busseweise an, weil sie das Viertel aus der Fernsehserie-Serie »Friends« kennen - die allerdings in Kalifornien gedreht wurde.
Manche glauben, dass diese Entwicklung typisch ist für ganz Manhattan, dass die Stadt dabei ist, zu einem gigantischen Themenpark zu werden, der genauso frei ist von Zigarettenasche und Hundedreck wie Disney World.

Artikel vom 19.05.2006