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Der Kühlschrank wird zur Litfaßsäule

Wohnen und Arbeiten 2020: EMNID-Chef Klaus-Peter Schöppner mit zwei Szenarien

Von Monika Schönfeld
(Text und Foto)
Schloß Holte-Stukenbrock (WB). Was wird die Zukunft uns bringen? »Ich weiß das gar nicht so genau«, sagte gestern Klaus-Peter Schöppner, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstitutes EMNID und Gastredner des Neujahrsempfangs der Stadt. Er zeichnete zwei entgegengesetzte Szenarien, wie es im Jahr 2020 aussehen könnte. Die eintreffende Wirklichkeit dürfte zwischen den beiden von Schöppner gezeigten Visionen liegen.

»Nichts kommt von allein - wenig bleibt wie es ist«, zitierte der Chef von 350 Mitarbeitern allein in Bielefeld Willy Brandt. Die Zukunft könne also ausgesprochen spannend sein. Im Jahr 2020 werde es das Europa der 35 geben. Grenzen fallen, der Wohlstand werde vereinheitlicht - für die Deutschen heiße das auf niedrigerem Niveau als heute. Die Technologie werde sich im Alltag durchsetzen. Damit werden weniger Gesetze nötig, allerdings werde alles kontrollierbar. Wir werden eine Gesellschaft der Alten haben - 40 Prozent der Deutschen werden 60 Jahre und älter sein. »Yuppie ist von gestern - wir werden eine Gesellschaft der Weisheit, der Lebenserfahrung und der Entschleunigung.« Die Familie als zentrale Form des Zusammenlebens werde abgelöst von Netzwerken, auf dem Arbeitsmarkt werden »normale« Arbeitsverhältnisse ersetzt durch flexible Formen. »Die Kunden werden bestimmen, wann ich arbeite.«
Deutschland habe zwei Möglichkeiten, auf diese Bedingungen zu reagieren - als sozialer Staat oder Staat des Marktes. Im sozialen Staat werden Sicherheit und Bescheidenheit regieren. »Globalisierung? Wir machen nicht mehr mit«, wird das Motto sein. Damit würden die Menschen autonom, verfügen über viel Zeit. Kaufen ist »out«, Leihen und Mieten »in«. Deutschland wird eine breite Mittelschicht auf deutlich niedrigerem Wohlstandsniveau haben. Langsamkeit und Ideenreichtum werden sie kennzeichnen, die Grenzen zwischen Arbeit, Schwarzarbeit und Freizeit verwischen - finanziell nutzbare Freizeitaktivitäten bergen die Gefahr einer Schattenwirtschaft. Allerdings ist der mündige Kunde besser informiert. Zeit hat er ja, Geld ist knapp. Deshalb wird im Konsum das Preis-Nutzen-Verhältnis überwiegen. Die Menschen werden bis zum Alter von 70 Jahren und mehr arbeiten - aber nicht durchgehend. Es wird immer wieder Leerphasen geben. Die Frage des Wohnens stellt sich nicht - Wohnungen für eine schrumpfende Bevölkerung sind genug vorhanden.
Anders der Weg des Marktes: Die Konzerne setzen sich durch, die Aktive brauchen. Leute, die dann keine Zeit haben, aber Geld. Die Gefahr besteht, dass sich die Gesellschaft spaltet. Die anderen haben viel Zeit, aber kein Geld. In der Freizeit derer mit wenig Zeit bedeutet das, maximalen Erlebniswert aus der knappen Freizeit zu holen. Ein Restaurant in einer Kirche wie in Bielefeld seien erste Ansätze. Kombinutzen heißt das Stichwort: Gemüse kaufen beim Koch, der einem die Zubereitung verdeutlicht, Skiurlaub im Designerhotel, Markenbewusstsein als Identitätsstiftung. Die Arbeit wird »entlokalisiert«, Teams arbeiten auf Zeit, die Schlüsselqualifikationen heißen Organisieren und Delegieren. Berufliche Mobilität verbietet eine Bindung an die Scholle. Die »mobile Immobilie« wird es geben, wer umzieht, zieht mit seinen Modulen - der Küche, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer - in eine neue Behausung. »Architekten bauen Waben«, meint Schöppner. Der Kühlschrank wird zur Kommunikationsbörse, der modernen Litfaßsäule. Die neuen Berufe finden sich in Preisagenturen, als Informationsmakler, Pool- und Crossmanager, die Vergleiche für ihre Kunden anstellen. Denn die Alten, die »Silver Consumer«, sind die Zielgruppe des Konsums.

Artikel vom 09.01.2006