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Von Stefan Küppers

Haller
Aspekte

Warum zog keiner die Reißleine?


Was den Anliegern der Straße Mödsiek jetzt widerfährt, darf getrost als Albtraum bezeichnet werden. Für vermeintlich kleines Geld (Mitte der 90er Jahre 95 Mark je Quadratmeter) kauften Familien Grundstücke im Neubaugebiet rund um den Tiefer Weg. Viele dieser kinderreichen Familien sind und waren auf öffentliche Wohnungsbauförderung angewiesen, es musste also schon immer hart gerechnet werden.
Umso härter trifft es diese Familien, dass sich jemand verrechnet, auf den sie glaubten, sich verlassen zu können: die Bauverwaltung der Stadt Halle. Auf Prognosen der Stadt basierend wurden Kreditverträge abgeschlossen und Fördermittel eingeholt. Jetzt, Jahre später, platzt die Endabrechnung für die Erschließungskosten wie eine Bombe in die Familienbudgets. Es klingt fast unglaublich: Statt einem in Aussicht gestellten Beitragssatz von elf Euro je Einheit, sollen die Anwohner jetzt 19 Euro zahlen. Das sind sage und schreibe 72 Prozent über der amtlichen Prognose.
Auch wenn die Vorhersagen nur Cirka-Angaben ohne Rechtsverbindlichkeit waren, kann dies nicht darüber hinweg täuschen, dass der »Fall Mödsiek« für die Bauverwaltung einen GAU darstellt, einen größten anzunehmenden Unfall. Die Anlieger beklagen sich zurecht darüber, dass angesichts der Kostenexplosionen in Einzelbereichen niemand auf den Alarmknopf drückte oder gar die Kosten-Reißleine zog.
Ein privater Bauherr würde seinen Architekten zurecht vom Hof jagen, wenn dieser ihm Mehrkosten bei der Straßenbeleuchtung von 70 Prozent, beim Grunderwerb von 113 Prozent, bei der Fremdfinanzierung von 188 Prozent oder bei der Baustraße gar von 561 Prozent vorlegen würde. Denn in der privaten Wirtschaft hat ein Angebot stets eine gewisse Verbindlichkeit, es darf nur zu einem kleinen Prozentsatz überschritten werden. Eine Stadtverwaltung hingegen scheint sich Ausreißer à la Mödsiek ohne Konsequenzen leisten zu können.
Verständlich, dass die geschockten Anlieger das Verhalten der Kommune auch für ein moralisches Unding halten. Nachvollziehbar, dass sie mit einem Fachgutachter die Plausibilität der hohen Mehrkosten überprüfen wollen. Doch unabhängig vom Ausgang wünschte man sich als Steuerbürger, dass vor allem eine Erkenntnis in den Amtsstuben Platz greift: Der treuhänderische Umgang mit Bürgergeld erfordert ein besonders hohes Maß an Verantwortung und Sensibilität für die reale Lebenssituation von Familien und Normalverdienern. Die können ihre Mehrkosten schon lange nicht mehr einfach weiterreichen.

Artikel vom 07.01.2006