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Westminster zu Mitternacht

Der letzte Jahreswechsel im Großuhrenstudio Reckmeyer

Von Stephan Rechlin
(Text und Fotos)
Gütersloh (WB). Der Schwarzwald liegt im Heidkamp. Das Uhrenstudio von Hans-Otto (69) und Gisela Reckmeyer (65) ist die ostwestfälische Vertriebs-Zentrale der Firma Kieninger, des ältesten bestehenden Herstellers der Welt von mechanischen Uhrwerken für Stand-, Wand- und Tischuhren. Noch 2,7 Millionen Pendelschläge, dann ist die Zeit dieses einzigartigen Geschäftes abgelaufen.

Zum Monatsende wollen die beiden Rentner endgültig in den Ruhestand treten. So lange wird der Räumungsverkauf fortgesetzt. Zu räumen gibt es ein gutes Dutzend edler Stand- und Wanduhren deren Preise den Kunden zunächst wie Glocken in den Ohren klingen. Doch dafür bekommen sie Uhrenkunstwerke.
Das Prachtstück im dunklen Eichenholz rechts vom Eingang zum Beispiel. Jeder Griff, jede Tür, jede Gravur in dem Gehäuse ist von Hand gefertigt. Das Uhrwerk mit dem römischen Ziffernblatt birgt Geheimnisse, die Hans-Otto Reckmeyer auf Nachfrage erklärt. »Das Zifferblatt stellt die Phasen des Mondes während des 29 einhalb Tage dauernden Mondmonats dar. Am linken Hebel können Sie einschalten, ob das Schlagwerk alle viertel, halbe oder volle Stunde erklingen soll. In der Nacht schaltet sich das Schlagwerk automatisch ab. Am Hebel rechts kann die Melodie des Schlagwerkes gewählt werden. Westminister, St. Michael oder Whittington.« Warum ertönen in deutschen Schlagwerken nur die Melodien englischer Kathedralen? »Sie sind am beliebtesten. Sie können aber auch den ÝVogelfängerÜ oder ÝFreude schöner GötterfunkenÜ wählen«, informiert Reckmeyer.
Vor 25 Jahren erteilte das schwarzwälder Traditionsunternehmen Reckmeyer die Lizenz zum Vertrieb der wertvollen Uhren an Groß- und Einzelkunden. »Kieninger suchte einen Vertriebsprofi in Norddeutschland. Ich kam aus der Möbelbranche und verstand etwas von Holz«, berichtet Reckmeyer. Seine Frau übernahm den Verkauf im Laden, er klapperte die Kundschaft im Auto ab. »90 000 Kilometer standen jedes Jahr mehr auf meinem Tacho«, sagt Reckmeyer. Mit den Jahren arbeitete er sich auch in die Geheimnisse des Uhrmacherhandwerkes ein. Wenn Probleme mit der Funktion auftauchten, konnte er die Kunden beraten.
Alter und Gesundheit trugen zum Entschluss bei, das Geschäft in diesem Jahr aufzugeben. Um die Zukunft der Uhren haben sie keine Angst: »Wer als Kind mit solch einer Uhr aufgewachsen ist, der will sie später auch zu Hause haben.«

Artikel vom 02.01.2006