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Anschließend stellte sie diese Pandorabüchsen seufzend wieder weg und faßte schlechte Vorsätze: Wenn sie sich nicht waschen ließ, wenn sie sich heute für nichts interessierte, wenn sie ihren Teller nicht aufessen wollte und wenn sie zum Spazierengehen lieber den Mantel über ihren Morgenrock zog, so war das letztendlich ihr gutes Recht. Ihr unveräußerliches Recht. Sie würde sie damit nicht nerven, und wer sich daran störte, brauchte sie nur auf ihre Vergangenheit anzusprechen, auf ihre Mutter, die Abende bei der Weinlese, auf den Tag, an dem der Herr Pfarrer beinahe in der Louère ertrunken wäre, weil er das Netz ein wenig zu schnell ausgeworfen und es sich in einem Knopf seiner Soutane verfangen hatte, oder aber auf ihren Garten, um das Leuchten in ihre trüben Augen zurückzuholen. Camille jedenfalls hatte noch nichts Besseres gefunden.
»Und als Salat, was haben Sie da genommen?«
»Margeriten und Schnittsalat.«
»Und als Karotten?«
»Pastinaken, natürlich.«
»Und als Spinat?«
»Oh, als Spinat. Mangold. Der war ziemlich ergiebig.«
»Aber wie können Sie sich bloß an all die Pflanzen erinnern?«
»Ich erinnere mich sogar an die Verpackungen. Ich habe jeden Abend im Gartenkatalog von Vilmorin geblättert, wie andere ihr Meßbuch traktierten. Das habe ich geliebt. Mein Mann träumte von Patronentaschen, wenn er seine Jagdhefte las, und ich hatte ein Faible für Pflanzen. Die Leute kamen von weither, um meinen Garten zu bewundern, weißt du?«

Sie setzte sie ins Licht und malte sie, während sie ihr lauschte.
Und je mehr sie sie malte, um so mehr liebte sie sie.
Hätte sie stärker gekämpft, um sich auf den Beinen zu halten, wenn der Rollstuhl nicht gewesen wäre? Hatte Camille sie infantilisiert, indem sie sie ständig bat, sich hinzusetzen, damit sie schneller vorwärts kamen? Vielleicht.
SeiÕs drum. Was sie miteinander erlebten, all die Blicke, all die gedrückten Hände, während das Leben bei der geringsten Erinnerung zerbröselte, konnte ihnen kein Mensch mehr nehmen. Weder Franck noch Philibert, die meilenweit davon entfernt waren, das Irrationale an ihrer Freundschaft zu erfassen, noch die Ärzte, die noch nie einen Menschen davon abgehalten hatten, an den Strand zurückzukehren, acht Jahre alt zu sein und heulend »Herr Pfarrer! Herr Pfarrer!« zu schreien, da ein ertrunkener Pfarrer für alle seine Meßdiener der direkte Weg in die Hölle bedeutete.
»Ich habe ihm meinen Rosenkranz zugeworfen, als ob ihm das geholfen hätte, dem armen Mann. Ich glaube, an dem Tag habe ich angefangen, meinen Glauben zu verlieren, denn anstatt Gott anzuflehen, hat er nach seiner Mutter gerufen. Das fand ich verdächtig.«

2. Kapitel

»Franck?«
»Mmm.«
»Ich mache mir Sorgen um Paulette.«
»Ich weiß.«
»Was sollen wir tun? Sie zum Arzt schleifen?«
»Ich glaube, ich verkaufe mein Motorrad.«
»Na toll. Dir ist scheißegal, was ich erzähle.«

3. Kapitel

Er verkaufte es nicht. Er tauschte es bei seinem Grillmeister gegen einen hasenfüßigen Golf. In dieser Woche war er am Boden zerstört, hütete sich aber, es den anderen zu zeigen, und sorgte am darauffolgenden Sonntag dafür, daß sich alle drei um Paulettes Bett versammelten.
Wie es das Schicksal wollte, war schönes Wetter.
»Arbeitest du heute nicht?« fragte sie ihn.
»Nöö, hab heut keine Lust. Sagt mal, hm. War gestern nicht Frühlingsanfang?«
Die anderen verstanden die Welt nicht mehr. Von dem einen, der in seinen Hieroglyphen lebte, wie von den anderen, die seit Wochen kein Zeitgefühl mehr besaßen, war nicht das geringste Echo zu erwarten.
Er ließ sich nicht aus der Fassung bringen:
»Aber ja, ihr Pariser Stadtpflanzen! Es ist Frühling, sag ich euch!«
»Wirklich?«
Etwas träge, das Publikum.
»Ist euch das so egal?«
»Nein, nein.«
»Doch, das ist euch egal, das seh ich doch.«
Er war ans Fenster getreten:
»Also, ich mein ja nur. Es ist schade, mitanzusehen, wie die Chinesen auf dem Champ-de-Mars emporsprießen, wo wir ein schönes Häuschen auf dem Lande haben wie alle Geldsäcke in diesem Haus, und wenn ihr euch etwas beeilen würdet, könnten wir noch auf dem Markt von Azay vorbei und ein paar leckere Sachen fürs Mittagessen kaufen. Das heißt, das ist meine Meinung. Wenn euch das nicht reizt, geh ich wieder ins Bett.«
Einer Schildkröte gleich streckte Paulette ihren alten runzligen Hals unter dem Panzer hervor:
»Was?«
»Ach. Was ganz Einfaches nur. Ich dachte an Kalbskotelett mit gemischtem Gemüse. Und vielleicht Erdbeeren zum Nachtisch. Aber nur, wenn sie schön sind. Sonst mach ich einen Apfelkuchen. Wir müssen mal sehen. Einen kleinen Bourgueil von meinem Freund Christophe dazu und ein Mittagsschläfchen in der Sonne, macht euch das an?«
»Und deine Arbeit?« fragte Philibert.
»Pff... Ich mach doch nun wirklich genug, oder?«
»Und wie kommen wir da hin?« meine Camille ironisch, »in deinem Topcase?«

Er nahm einen Schluck Kaffee, bevor er genüßlich fallenließ:
»Ich hab ein schönes Auto, es steht vor der Tür, dieser verfluchte Pikou hat es heute morgen schon zweimal getauft, der Rollstuhl liegt zusammengeklappt hinten drin, und ich hab vorhin vollgetankt.«
Er stellte seine Tasse ab und nahm das Tablett:
»Los, Beeilung, Kinder. Ich muß noch Erbsen enthülsen.«
Paulette fiel aus dem Bett. Daran war nicht das Kleinhirn schuld, sondern die Überstürzung.

Gesagt, getan, und das Getane wurde jede Woche wiederholt.
Wie alle Geldsäcke - aber ohne sie, weil diese einen Tag Vorsprung hatten - standen sie am Sonntag sehr früh auf und kamen am Montagabend zurück, die Arme voller Lebensmittel, Blumen, Skizzen und einer gesunden Müdigkeit.

Paulette erwachte zu neuem Leben.

Mitunter erlitt Camille einen Anfall von Klarsicht und sah den Dingen ins Auge. Was sie mit Franck lebte, war sehr angenehm. Laß uns fröhlich sein, verrückt sein, die Türen verrammeln, etwas in die Rinden ritzen, unser Blut mischen, nicht mehr darüber nachdenken, uns gegenseitig erforschen, uns entblättern, ein bißchen leiden, von heute an die Rosen des Lebens pflücken, blablabla, aber es würde nie funktionieren. Sie hatte keine Lust, sich darüber auszulassen, aber an ihrer Affäre war nun einmal etwas faul. Zu viele Unterschiede, zu viele... Kurzum. Weiter. Es gelang ihr nicht, die hingebungsvolle und die wachsame Camille zusammenzubringen. Immerzu betrachtete die eine naserümpfend die andere.
Traurig, aber wahr.

Und dann auch wieder nicht. Manchmal gelang ihr ein distanzierter Blick, und die beiden Nervensägen verschmolzen zu einer einzigen, entwaffnet und naiv. Manchmal führte er sie in die Irre.

An diesem Tag, zum Beispiel. Der Coup mit dem Auto, dem Mittagsschlaf, dem Markt und alledem war schon nicht schlecht, aber das Beste kam noch.
Das Beste kam, als er am Ortseingang hielt und sich umdrehte:
»Omi, du solltest etwas laufen und den Rest mit Camille zu Fuß zurücklegen. Wir werden das Haus in der Zwischenzeit aufmachen.«
Genial.
Denn man mußte sie gesehen haben, die kleine Oma in Moltonhausschuhen, wie sie sich am Arm ihres jugendlichen Spazierstocks festklammerte, der sich seit Monaten vom Ufer entfernte und in der Vase versank, wie sie langsam voranschritt, ganz langsam, um nicht auszurutschen, wie sie dann den Kopf hob, die Knie hochnahm und die Umklammerung lockerte.
Das mußte man gesehen haben, um so alberne Worte wie Glück und Seligkeit zu erwägen. Dieses strahlende Lächeln plötzlich, diese königliche Haltung, das Nicken in Richtung der sich bewegenden Vorhänge und ihre unerbittlichen Kommentare über den Zustand der Blumenkästen und der Gartenpfade.
Wie schnell sie mit einem Mal lief, wie ihre Gesichtsfarbe wiederkehrte, mit den Erinnerungen und dem Geruch des lauwarmen Teers.
»Sieh nur, Camille, das ist mein Haus. Das ist es.«

4. Kapitel

Camille blieb stehen.
»Was ist denn? Was hast du denn?«
»Das ist... das ist Ihr Haus?«
»Ja, sicher! Oh, sieh nur, was für ein Durcheinander. Es ist gar nichts geschnitten worden. Was für ein Jammer.«
»Meins, könnte man meinen.«
»Pardon?«
Ihrs, nicht das in Meudon, in dem sich ihre Eltern das Gesicht zerkratzt hatten, sondern das Haus, das sie malte, seit sie groß genug war, einen Filzstift zu halten. Ihr kleines fiktives Haus, dieser Ort, an den sie sich mit ihren Träumen von Hühnern und Weißblechdosen zurückzog. Ihre Polly Pocket, ihr Barbie-Wohnwagen, ihr Marsupilamis-Nest, ihr blaues Häuschen am Berge, ihr Tara, ihre afrikanische Farm, ihr Felsentempel.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.01.2006