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Die Gans schmorte auch schon vor 100 Jahren im Ofen

Doch Weihnachten wurde früher anders gefeiert

Von Marion Neesen (Text und Foto)
Salzkotten (WV). Wenn am heutigen Heiligen Abend in den Familien des Paderborner Landes die Geburt Christi gefeiert wird, dann gibt es nach der Christmette (oder auch vorher) meist etwas Gutes zu essen, der Christbaum leuchtet und darunter liegen die Geschenke. Das sind wohl die wesentlichen Bestandteile des Weihnachtsfestes. Doch wie sah das Fest eigentlich vor 100 und mehr Jahren aus, woher kommen Sitten und Bräuche und was ist anders geworden ?

Auf diesem Gebiet kennt sich die Salzkottenerin Beate von Sobbe besonders gut aus. 15 Jahre lang ist sie mit ihrem Mann durch die Dörfer des Paderborner Landes gefahren und hat sich Geschichten von früher erzählen lassen.
»Ich habe mich als Kind immer gwundert, warum es die leckeren Plätzchen nur zu Weihnachten und die bunten Eier nur zu Ostern gibt«, erklärt Beate von Sobbe ihren Drang, hinter das Geheimnis der Traditionen zu kommen. Dabei hat sie auch erfahren, dass Weihnachten vor der Jahrhundertwende noch etwas anders gefeiert wurde.
»Bescherung war damals keineswegs am Heiligen Abend. Denn das war ein ganz normaler Arbeitstag. Die Geschenke gab es erst am ersten Weihnachtstag. In einigen Familien ist das heute noch so«, erzählt die Salzkottenerin.
Die Adventszeit war die erste große Fastenzeit im Kirchenjahr. Bis zum Mittag des Heiligen Abends galt strenge Abstinenz, vielleicht kam hier und da mal ein Fisch auf den Tisch. Einen Adventskranz gab es um die Jahrhundertwende nur in der Kirche, auch der Adventskalender mit seinen Türchen entwicklete sich erst um 1900.
Dann folgte das Weihnachtsfest mit der mitternächtlichen Christmette und der Bescherung. Doch lagen vor 100 Jahren natürlich nicht teure elektronische Spielsachen, Parfüms und Schmuck unter dem Weihnachtsbaum, den übrigens erst um 1815 die Preußen mit in die Region gebracht hatten. Vielmehr fanden die Kinder die geliebte Puppe, deren »apper« Arm wieder angenäht war, oder das Schaukelpferd mit neuem Schwanz aus Hanf und frischer Farbe. Die Jungen freuten sich über einen Kreisel oder einen Zinnsoldaten, es gab gestrickte Strümpfe und wollene Handschuhe. Am Baum hingen selbstgebackene Figurenplätzchen und Spekulatius mit dämonischen Gestalten aus vorchristlicher Zeit
Und man dachte an diesem Morgen auch ganz besonders an das Vieh: Die Pferde bekamen mehr Hafer, das Rindvieh eine Extraportion Heu, der Hofhund Rinderwurst und die Katze besonders viel Milch. Für die Vögel hatten die Leute als Weihnachtsgabe einige Äpfel übrig.
Auch der Mensch ließ es sich gut gehen, so weit es ging. Am Heiligen Abend standen bei vielen Familien jedoch erst einmal Kartoffel- oder Heringssalat auf dem Tisch. Der eigentliche Festtag war der erste Feiertag. Hoch im Kurs stand die gefüllte Weihnachtsgans. »Den hohlen Vogel füllte man meist mit Gehackten, das die Kinder bekamen, Äpfeln und Rosinen oder auch Apfelsinen«, weiß die Salzkottener Brauchtumsforscherin.
Aber es gab auch regionale Besonderheiten wie etwa die Wewelsburger »Muffen«. Die wurden aus dem Teig gemacht, der beim Brotbacken an den Wänden des Backtroges hängen blieb und nicht mehr für ein ganzes Brot reichte. Ihm fügten die Wewelsburger Weizenmehl und Milch hinzu. Es kamen Rosinen hinein und der Teig wurde wie ein Stuten gebacken. Morgens nach der Bescherung stand zum ersten Frühstück dieses leckere Brot auf dem Tisch, Es wurde mit Butter bestrichen und mit Runde-Mettwurst-Scheiben belegt.
Auch für Mägde und Knechte war das Weihnachtsfest ein Freudentag. Sie bekamen ihren Jahreslohn und durften zu ihren Familien nach Hause. Umgekehrt kamen am zweiten Weihnachtstag auswärtige Familienangehörige ins Elternhaus zurück. Vielleicht steht deshalb an Weihnachten heute noch der Besuch bei Oma und Opa an.
In den zwölf Heiligen Nächten (von Weihnachten bis zu den Heiligen Drei Königen) ruhte die Arbeit. Routiernde Tätigkeiten wie fahren, spinnen oder dreschen waren sowieso verboten, denn »süss kümmt dei Motte inne Wulle«.
Zwischen Weihnachten und Neujahr durfte auch keine Wäsche aufgehängt werden. »Das hat etwas mit der Götting Hera zu tun,« weiß Beate von Sobbe. Die fliegt nämlich in dieser Zeit übers Land und spendet ihren Segen. Wenn die Wäsche bei Wind durch die Luft gewirbelt wird, könnte sie sich darin verfangen und das beudeutet Unglück. »Daher waschen sehr viele Leute, auch jüngere, auch heute noch keine Wäsche in dieser Zeit«, weiß Beate von Sobbe. Ebenso ruhte die Arbeit auf dem Feld, weil man befürchtete, der Boden könnte unfruchtbar werden.
Schlemmen und Völlerei gingen auch Silvester und Neujahr weiter. So war der letzte Tag des Jahres vielerorts der Kokendag. Bis zu 100 (in Worten hundert) Kuchen pro Kopf wurden mit dem Kucheneisen gebacken. Weil er so platt war wurde der Eiserkoche auch Schuhsohle genannt. Die Formen waren aber von Ort zu Ort verschieden.
In Helmern gab es runde Hefekuchen mit Streuseln, in Lichtenau und Leiberg den Krengel und im Delbrücker Land wurden in der Neujahrsnacht Pickert gebacken, in Elsen und Bentfeld hieß der Silvesterkuchen Puffert. Empfangen wurde das neue Jahr wie heute mit Schüssen und Böllern. In Delbrück ließ man zudem die Peitschen in einem bestimmten Rhythmus knallen.
Wer also am morgigen Sonntag die lecker gefüllte Weihnachtsgans genießt oder am Nachmittag ein Spekulatius in den Kaffee dippt, kann dies in der Gewissheit tun, dass schon vor mehr als 100 Jahren die Menschen genauso Weihnachten feierten; aber auch, dass manches anders war.

Artikel vom 24.12.2005