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Marco (11) hat jetzt zwei Familien

Behinderte Kinder verbringen Weihnachten zum ersten Mal auf dem Laibach-Hof

Von Klaus-Peter Schillig
Halle-Bokel (WB). Es ist die 25. Weihnacht, die in diesem Jahr auf dem Laibach-Hof gefeiert wird - und zum ersten Mal bleiben auch drei der jungen geistig behinderten Bewohner über die Feiertage in ihrem gewohnten Umfeld. Marco ist einer von ihnen.

Der Elfjährige hat unglaublich viel Temperament, lebt aber in seiner eigenen Vorstellungs-Welt und reagiert auf Abweichungen schon mal mit unvorhersehbaren Ausbrüchen. »Lebenssinn-Störung« nennen das die Anthroposophen. Das können eigentlich nur geschulte Pädagogen bewältigen, die ihn kennen, die täglich mit ihm arbeiten, die es vorhersehen können. Seine Geschwister und seine Eltern, die nicht ständig mit ihm leben, könnten deshalb leicht überfordert sein - und alles andere als glückliche Feiertage erleben.
Den Part der Familie, den übernehmen in diesen Tagen Wilhelm Friederichs, seine Lebensgefährtin Cornelia Haase und deren beiden Kinder Johanna (18) und Jan-Phillip (16). Der 51-jährige Erzieher ist als Teamleiter täglich mit Marco zusammen, wohnt ohnehin auf dem Laibach-Hof und hat nach kurzem Familienrat »grünes Licht« dafür bekommen, den Elfjährigen und die gleichaltrige Jasmin (Name aus Schutzgründen geändert) über Weihnachten in die große Runde aufzunehmen.
Als »Verstärkung« bleibt auch Angelika Gräf (49) mit in Bokel. Die pädagogische Leiterin der Behinderten-Einrichtung - sie arbeitet schon seit 24,5 Jahren hier - will Familie Friederichs-Haase ein bisschen entlasten. Die besucht am Heiligen Abend traditionell die Aufführung der Oberuferer Weihnachtsspiele in der Rudolf-Steiner-Schule in Bielefeld. In dieser Zeit will Angelika Gräf mit Marco und Jasmin losziehen, ein bisschen spielen oder vorlesen. Gemeinsam will sie mit den beiden Schützlingen auf das Christkind warten. »Für die, die hier bleiben, wollen wir es richtig schön machen. Das soll keine Notgruppe sein«, verspricht sie den beiden Kindern Geborgenheit wie in einer echten Familie und freut sich selbst schon auf die erwartungsvollen Stunden. Dazu gehört auch ein Krippenspiel in kleiner Runde inszeniert: Marco bekommt einen Hut auf und wird den Joseph mimen, Jasmin mit Lieblingspuppe als Baby die Maria.
Die Aufnahme der behinderten Kinder in den eigenen Familienverbund, sie ist auch keineswegs per Dienstplan geregelt. Da verwischen sich die Grenzen zwischen Beruf und privatem Engagement. »Schließlich sind wir eine Lebensgemeinschaft«, betont Wilhelm Friederichs. Die Kinder sollen spüren, dass man auch wirklich für sie da ist und nicht nur nach Dienstplan anwesend.
Damit er und seine Familie aber auch ihre eigenen Weihnachts-Rituale feiern können, beispielsweise die Bescherung am ersten Feiertag, wird Angelika Gräf am Sonntag Marco und Jasmin zum Frühstück einladen. Später werden die beiden Elfjährigen den Tag im Kreis anderer Kollegen-Familien verbringen und abends wieder zurückkehren - für einen gemeinsamen zweiten Weihnachtstag.

Artikel vom 24.12.2005