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Sekunden von Sensation entfernt

TuS N-Lübbecke unterliegt beim TBV Lemgo hauchdünn mit 29:30 (11:16)

Von Wolfgang Sprentzel
Lübbecke/Lemgo (WB). Preisfrage: Wie viele Sekunden entfernt ist »himmelhoch jauchzend« von »zu Tode betrübt«? Die Anwort darauf weiß seit Mittwochabend der heimische Handball-Bundesligist TtuS N-Lübbecke ganz genau. Sie lautet ganz einfach: höchstens sechs Sekunden!

Denn beim Ostwestalen-Derby, das im Übrigen von beiden Teams recht leidenschaftslos (nur der TBV Lemgo erhielt zwei Zeitstrafen) geführt wurde,ließ Stian Tönnesen den kleinen Anhang der Sieben vom Wiehen genau sieben Sekunden vor dem Abpfiff tatsächlich himmelhoch jauchzen. Denn er hatte aus der zweiten Reihe TBV Lemgos Torhüter Carsten Lichtlein mit einem verdeckcten Schuss unten durch zum 29:29 bezwungen. Nur ein Wimpernschlag trennte die Schützlinge von Jens Pfänder von der greifbaren Sensation.
Doch manchmal pflegen Wimpernschläge eben auch zu Ewigkeiten zu werden. Denn der TBV Lemgo reagierte blitzschnell. Lichtlein beeilte sich wahnsinnig, das Leder aus dem Tor zu holen und es nach vorn zur Mitte zu spielen, wo Christian Schwarzer schon auf den Anpfiff der beiden Unparteiischen Hagen Becker/Axel Hack wartete. Nach dem Pfiff sofort der Pass auf den startenden Michael Binder, der den Ball aus etwa 20 Metern ins noch verwaiste Nettelstedter Tor hob.
Vielleicht der entscheidende Fehler der Mühlenkreissieben. Denn Jens Pfänder hatte kurz vor dem Tönnesen-Schuss seinen überragenden Torhüter Fichte Friedrich auf die Bank beordert, ihn durch den zweiten Kreisläufer Nico Greiner ersetzt, um im Angriff eine Überzahl zu erzwingen. Die letzte Karte der Gäste. Das Unterfangen war zwar durch Tönnesens Tor von Erfolg gekrönt, allein beging der TuS jetzt gleich zwei Fehler. Erstens gelang es ihm nicht, trotz des Versuchs von Sudzum, die Ausführung der schnellen Mitte zu verhindern, zweitens eilte Greiner anstatt ins eigene Tor zur Bank, um wieder Friedrich zwischen die Pfosten zu lassen. Und genau die Wege waren zu lang, um das Gehäuse wieder zu schützen.
Während die über 4000 Anhänger des TBV Lemgo den nicht mehr erhofften Sieg bejubelten, sanken die Akteure des TuS N-Lübbecke enttäuscht zu Boden.
Der Frust war nur zu verständlich. Denn nach einer von beiden Seiten grottenschlecht geführten ersten Halbzeit (Hans-Werner Antkewitz, früherer Torhüter des TBV Lemgo zur Halbzeitpause: »Mann, das kann man ja nicht mit ansehen. Am liebsten würde ich ja nach Hause gehen. Unsere sind ja so schlecht - aber der TuS N-Lübbecke ist ja noch blinder!«) trumpften tatsächlich im zweiten Durchgang die Gäste auf. Aus dem eigentlich klaren 16:11-Pausenstand für die Hansestädter (alles erwartete jetzt, dass der TBV nun dieses Derby klar beherrschen würde) war innerhalb von nur fünf Minuten ein 18:17 geworden. Alles war wieder offen. Und weil die Gäste jetzt mit wesentlich mehr Leidenschaft in der Abwehr zu Werke gingen, Thorsten Friedrich im Tor weiterhin eine Parade nach der anderen zeigte, lediglich bei den Würfen von TBV-Shooter Filip Jicha machtlos war, hatte der TuS N-Lübbecke nach einem zwischenzeitlichen 24:19 für den TBV beim 25:25 in der 50. Minute wieder den Gleichstand erreicht, alles auf Null gestellt und TBV-Trainer Volker Mudrow (auf den Rängen wurden schon enttäuschte »Mudrow raus!«-Rufe laut) zur Auszeit gezwungen. Und zu einer Maßnahme, die er eigentlich gar nicht hatte treffen wollen. Der dick am Knie bandagierte Florian Kehrmann hatte sich schon vor der Auszeit aufgewärmt und wurde jetzt von Mudrow im rechten Rückraum für den maßlos enttäuschenden Volker Zerbe gebracht. Mehr Druck entwickelte der National-Rechtsaußen freilich gegen die aufmerksame TuS-Deckung auch nicht. Nur einmal setzte er sich eins gegen eins durch - und fand prompt im überragenden Friedrich seinen Meister.
Auf der Gegenseite konnte Patrick Fölser die zweite Führung für den TuS (die erste war Rolf Hermann beim 0:1 gelungen) zum 26:27 herauswerfen, der van Olphen, Sudzum (frei) und Lauritzen nach dem 27:27 durchaus eine weitere hätten hinzufügen können. Doch alle drei scheiterten an dem jetzt zwischen den Pfosten stehenden Nationalkeeper Carsten Lichtlein, der so dafür sorgte, dass der Treffer von Christian Schwarzer wieder die 28:27-TBV-Führung bedeutete. Fölser gelingt der Ausgleich und erneut Lauritzen hat es beim Tempogegenstoß auf der Hand, eine TuS-Führung zu erzielen. Doch der schon Anfang des Jahres zur SG Flensburg-Handwitt wechselnde Norweger scheitert erenut an Lichtleins Reflex und Filip Jicha verwertet seinen Strafwurf gegen den jetzt eingewechselten Nandor Fazekas (er wird ganz konkret mit dem HSV Hamburg in Verbindung gebracht) zum 29:28. Lichtlein hält noch einmal gegen Lauritzen (2. Reihe), ehe die eingangs geschilderten »sieben Sekunden bis zur Ewigkeit« folgten. Unterm Strich ein absolut glücklicher Sieg für den TBV Lemgo in einer Begegnung, die wirklich keinen Sieger verdient hatte.

Artikel vom 23.12.2005