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Mehrmals Aufbauarbeit geleistet

Sozialamtsleiter Jürgen Böcker geht in Altersteilzeit - Schönes und Schlimmes erlebt

Von Monika Schönfeld
(Text und Foto)
Schloß Holte-Stukenbrock (WB). Wie das so ist: Einst war er selbst ein Flüchtling, dann hat er sich auch um Flüchtlinge gekümmert. Jürgen Böcker, seit 1977 Leiter des Sozialamtes der Stadt, geht zum 31. Januar in Altersteilzeit. Nachfolger des 62-Jährigen wird Olaf Junker, der neben dem Schulverwaltungsamt auch das Sozialamt führen soll.

Eigentlich wollte Jürgen Böcker arbeiten, bis er 65 Jahre alt ist. Als Wink mit dem Zaunpfahl sah er aber den Angriff eines Kunden im Oktober 2003. »Ich wollte dem Mann helfen. Das hat er nicht verstanden. Ich war gerade aus dem Urlaub wiedergekommen. Hier konnten wir ihm keine Leistungen mehr gewähren. Ich wollte ihn an die Caritas vermitteln. Er schimpfte, spuckte, boxte mich in den Bauch, versetzte mir einen Kinnhaken und trat mir an den Kopf. Dreieinhalb Wochen war ich zu Hause. Das setzt einem psychologisch zu. Viele fragten, warum ich mir das noch antue. Der Familienrat hat beschlossen, dass ich die Altersteilzeit beantrage.« Das hat Jürgen Böcker dann auch getan.
Geboren ist Jürgen Böcker 1943 in Berlin. Zwei Jahre später fiel der Vater, einen Tag vor Kriegsende. Mit seiner Mutter wurde Böcker noch während des Krieges nach Lemgo »verschickt«. Die allein erziehende Mutter musste arbeiten, er selbst ging allein zu Fuß in den Kindergarten. Seine Mutter heiratete wieder - einen Kraftfahrer, der ins Sozialwerk Stukenbrock versetzt wurde. Seit 1953 besuchte Jürgen Böcker erst die Lagerschule, dann die evangelische Forellschule in Stukenbrock-Senne. »1958 waren ähnliche Zeiten wie heute. Ich war froh, als ich einen Lehrvertrag mit der Stadt Bielefeld unter dem Tannenbaum hatte. Mein Banknachbar in der Handelsschule hat 55 Bewerbungen geschrieben. Die Situation der Jugendlichen heute kann ich gut nachvollziehen.«
1959 begann Böcker als Verwaltungsangestellten-Lehrling in Bielefeld. Nach einem Angestellten-Lehrgang sah er dort aber keine Perspektive mehr. Per Stellenanzeige suchte die damals selbstständige Gemeinde Senne II Leute. So kam Böcker in den gehobenen Dienst. 1965 wurde aus Senne II Sennestadt. »Ich habe am Aufbau der neuen Verwaltung mitgearbeitet. Das war eine spannende Zeit.« Als die kommunale Neuordnung Sennestadt der Stadt Bielefeld zugeschlagen hat, suchte die Gemeinde Schloß Holte-Stukenbrock Leute. Seit 1970 vereinigt, damals noch im Kreis Bielefeld, wurde die Gemeinde 1973 dem Kreis Gütersloh zugeordnet. Wieder konnte Böcker Aufbauarbeit leisten.
Als 1977 Ordnungs- und Sozialamt getrennt wurden - Sitz war bis zum Bau des Rathauses 1985 die Bahnhofstraße 10 - wurde Jürgen Böcker Leiter des Sozialamts. Beratung zur Rentenversicherung, Wohngeld, Sozialhilfe, Krankenhilfeleistungen, Ansprechpartner für Blindengeld, Rundfunkgebührenbefreiuung und Telefongebührenermäßigung gehören zu den Aufgaben seines Amts. Hier werden Schwerbehindertenausweise ausgegeben, ausländische Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler betreut. Zunehmen, so Böcker, wird die Pflegeberatung.
Seit Januar 2005 ist die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II verschmolzen. Der Bereich wurde aus dem Sozialamt ausgegliedert in eine eigene GmbH, die GT aktiv, die der Kreis Gütersloh und die Agentur für Arbeit Bielefeld tragen. Wirtschaftliche Hilfe, Fallmanagement, Arbeitsvermittlung und Eingliederungsleistungen werden jetzt von Bediensteten der Stadt geleistet, die an die GT aktiv »ausgeliehen« sind. Dem Sozialamt zugeschlagen worden ist seit 2003 die Grundsicherung im Alter (zurzeit 57 Fälle) und die Grundsicherung für Asylbewerber (30 Fälle).
29 Jahre als Sozialamtsleiter gehen an Jürgen Böcker nicht spurlos vorbei. »Vieles habe ich mit nach Hause genommen. Wenn Menschen unverschuldet in Not geraten und sich schämen, staatliche Leistungen anzunehmen und statt dessen Beeren im Wald suchen, berührt einen das.« Was Böcker zuwider ist, ist der Sozialneid. Viele schimpften, Flüchtlinge oder Aussiedler bekämen vom Staat mehr als sie. Für den einen ist es zu viel, für den anderen zu wenig. »In erster Linie geht es um Menschen. Die Menschenwürde ist zu achten.«
Das schlimmste Erlebnis seiner Amtszeit sei 1989 gewesen. Die Gemeinde hatte auf dem Parkplatz am Hallenbad Container aufgestellt, um Spätaussiedler aufzunehmen. 70 Leute waren innerhalb weniger Tage unterzubringen. Am Samstag habe es schon gekokelt, am Sonntag wurden die Container angezündet. »Da konnte keiner mehr einziehen. Am Montag standen die Leute vor dem Rathaus. Die Gesichter werde ich nicht vergessen. Was haben wir denen getan, fragten die Aussiedler. Das war einer der bewegendsten Momente.«
Auch Lustiges ist passiert. Ein Hilfeempfänger fragte nach einem Antrag auf Beihilfe für Pollhans. »Beantragen kann man alles«, schmunzelt Böcker. Der Marktmeister hatte aber Freikarten für die Fahrgeschäfte und habe sie weiter gegeben. So wie in diesem Fall hat Böcker den Menschen immer über seine Pflicht hinaus geholfen.
Der Vater zweier erwachsener Söhne, von denen einer noch studiert, wird in der Altersteilzeit all das tun, was er bisher aufgeschoben hat. Tennis und Boccia spielen, mit seiner Frau viel Fahrrad fahren, mit dem Hund spazieren gehen. Außerdem will er wieder regelmäßig ins Hallenbad, reisen und schon nachmittags mit seinem Nachbarn Skat spielen. Und wieder ein gutes Buch lesen - zum Beispiel eins von denen, die er damals zur Konfirmation bekommen hat.

Artikel vom 21.12.2005