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Kohlen 1945 schönstes Geschenk

Günter Tarras öffnet die Tür zu den Aufzeichnungen seines Vaters Georg Tarras

Von Monika Schönfeld
Schloß Holte-Stukenbrock (WB). Weihnachten vor 60 Jahren - Günter Tarras erinnert sich. Er war damals sechs Jahre alt. Er hat in den Aufzeichnungen seines Vaters gestöbert und ein Weihnachtsgedicht gefunden. Der im April 1996 verstorbene Georg Tarras, war lange Zeit Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen und war Ortsheimatpfleger in Schloß Holte. »Mein Vater hat sein ganzes Leben auf Band gesprochen. Aber das Gedicht ist eindeutig nicht von ihm.«

Das Gedicht schildert die »Weihnachtsbescherung« 1945 in Schloß Holte. Die »Befreier« hatten den Strom abgeschaltet, die Glocken läuteten die Weihnacht ein. Stärker war jedoch das Signal, das von Mund zu Mund wanderte: Im Bahnhof war ein Kohlenzug eingetroffen. Mit Schippen und Schaufeln, Säcken und Wannen, Bollerwagen und Pferdegespannen strömten die Bürger zum Bahnhof und haben den Kohlenzug entladen, heute würde der Begriff geplündert besser passen.
»Ich wusste, dass das Gedicht existiert«, berichtet Günter Tarras dem WESTFALEN-BLATT. Er vermutet, dass die musisch veranlagte Tochter einer Nachbarin es geschrieben hat, die aus Köln im Krieg evakuiert worden war. Es noch einmal durchzulesen, erinnert daran, dass Weihnachten vor 60 Jahren nichts mit dem heute gemeinsam hat. Und dennoch erinnert sich Günter Tarras gern: »Ich bin mir mit meinem Geschwistern einig. Wir hatten eine sehr glückliche Kindheit.«
Tarras lebt heute in Lichtenstein in der Schwäbischen Alb. Er hat in der Amtsnebenstelle Verl in der heutigen Polizeiwache in Schloß Holte als Verwaltungslehrling angefangen. Vier Jahre später wurde er Marinesoldat. Als die Bundeswehr nach 18 Monaten Inspektorenanwärter suchte, bewarb er sich und war bis zu seiner Pensionierung 1992 in der Wehrbereichsverwaltung III in Düsseldorf tätig.
Kurz nach dem Krieg war der Zusammenhalt unter den Menschen groß. »Wir konnten auf der Straße bolzen und im Wald spielen. Meine Familie hatte weder die Trecks durch Eis und Schnee mitgemacht noch einen Bombenangriff erlebt. Ich sage immer, wir haben den Krieg im Erste-Klasse-Waggon erlebt.« Ganz so war es freilich nicht. Vater Georg Tarras, 1907 in Breslau geboren, arbeitete dort in einer der größten Waggonfabriken Europas. Weil er in der Rüstungsindustrie arbeitete, wurde er nicht von der Wehrmacht eingezogen. Die Familie verließ 1945 Schlesien, bevor Breslau zur Festung erklärt wurde. Über Österreich floh die Familie in Güterwagen. In zugigen Zügen kam die Familie nach Detmold. Im Oktober 1945 wurde die Familie in britische Militärlastwagen geschafft und »kreuz und quer« durch den Kreis Lippe und angrenzende Gebiete gefahren. Die damals noch fünfköpfige Familie Tarras wurde in Schloß Holte im Kino und Gasthof Hörster einquartiert und mit einer warmen Erbsensuppe vom Bürgermeister begrüßt. Beim Malermeister Adrian an der Schloßstraße, damals Schloß Holte 554, haben sie fast zwei Jahre in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gelebt. »Frau Adrian begann zu weinen, als sie uns sah. Wir hatten nicht viel, nur das, was wir tragen konnten.« Günter Tarras erinnert sich, wie die Familie 1947 in die Villa Artois gezogen ist. Und er erinnert sich an die Nachbarin Anna Wölke, die demnächst 95 Jahre alt wird. »Sie hat die christliche Nächstenliebe praktiziert. Sie hat gegeben, wo sie konnte. Damals ließ die ganze Familie anschreiben. Irgendwann sagte Anna Wölke, Strich durch, erledigt. Viele vergessen das. Ich habe mich vor etwa zehn Jahren dafür bei ihr persönlich bedankt.«
Sein Vater sei Christ evangelischen Glaubens gewesen, berichtet Günter Tarras. Er habe sich gut mit dem Mann einer Kusine von Olga Tenge-Rietberg, einem Oberst a.D. Schenk, verstanden. Über die Westfälisch-Lippische Heimstätte haben beide gemeinsam mit Tenge-Rietberg verhandelt. Sie stellte Land zur Verfügung, so dass die erste Vertriebenensiedlung am Ostpreußenweg gebaut werden konnte. Die Kiefern am Rand des Holter Waldes wurden gefällt, die Siedler hatten die Auflage, die Stubben selbst zu entfernen. Beim damaligen Dechanten Josef Brill bat der evangelische Tarras darum, dass die Flüchtlinge auch am Sonntag arbeiten dürfen, um ihre Häuser in Eigenarbeit zu bauen. Brill habe seine Erlaubnis gegeben und das öffentlich von der Kanzel bekannt gegeben. »Mein Vater war ein Ökumene«, sagt Günter Tarras, dessen Mutter katholisch war. Im Februar 1952 konnten die Häuser bezogen werden.
Georg Tarras war aktiv in der evangelischen Kirchengemeinde und hat nach seiner Pensionierung die Bauleitung der neuen Versöhnungskirche übernommen, die nächstes Jahr 25 Jahre alt wird. Für sein Engagement um die Vertriebenen - Georg Tarras war Kreisvorsitzender des BdV-Kreisverbandes Gütersloh und Bielefeld und danach Ehrenvorsitzender - verlieh ihm der damalige Landrat Paul Lakämper 1979 das Bundesverdienstkreuz im Schloßkrug.

Artikel vom 17.12.2005