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Der Pieper bestimmt den Tag

Dr. Björn Preißner: zwischen Bereitschaftsdienst und Schlaflosigkeit

Von Peter Monke (Text und Fotos)
Brackwede (WB). Wie erschöpft der junge Mann im weißen Kittel wirklich ist, offenbart sich erst, als er fünf Minuten lang in Ruhe an seinem Schreibtisch sitzt. Jetzt erkennt man im spärlichen Licht einer kleinen Lampe den feinen Film aus kaltem Schweiß auf seinem Gesicht. Dr. Björn Preißner, 35, Assistenzarzt für Innere Medizin am Klinikum Rosenhöhe, sieht in diesem Moment sehr blass aus. Seine braunen Augen, die sonst aufmerksam ihr Umfeld taxieren, starren müde ins Leere. Das freundliche Lächeln, das er gerade noch jedem Patienten geschenkt hat, ist verschwunden. Der Körper fordert Tribut für fast 30 Stunden, die Preißner auf den Beinen ist - nahezu ohne Pause. Und vorbei ist die Schicht noch lange nicht.

Sechs- bis siebenmal im Monat müssen Assistenzärzte am Klinikum Rosenhöhe durch die Tretmühle 24-Stunden-Bereitschaftsdienst. Zweimal davon am Wochenende. Preißner war in der vergangenen Nacht als Notarzt für den Hubschrauber »Christoph 13« in Bereitschaft. Acht Einsätze sind es diesmal gewesen. Durchschnitt. Darunter eine 44-jährige Frau. »Die hatte so schwere Hirnblutungen, dass sie einfach tot umgefallen ist«, erzählt der Arzt. »Da konnte man nicht mal mehr operieren.«
Geschlafen hat er insgesamt nur knapp vier Stunden. »Früher hat mir das nicht so viel ausgemacht, aber mit den Jahren wird es zunehmend schlimmer«, erzählt Preißner und gibt zu, regelmäßig unter Schlafstörungen zu leiden. Egal - der Krankenhausalltag muss schließlich weitergehen. Von 7.50 Uhr am Morgen bis 16.15 Uhr am Nachmittag erstreckt sich der »normale« Dienst. Ausstehende Patienten-Entlassungen, Visiten oder Untersuchungen bei Notaufnahmen lassen es aber meist später werden.
Seinen Tagesrhythmus diktiert ihm dabei fast ausschließlich ein kleiner Pieper. Gerade hat er wieder angefangen zu lärmen. Eine Darmspiegelung wartet auf den Assistenzarzt. Bei einem Patienten mit Blutarmut soll geschaut werden, ob im Darmbereich eine Blutung vorliegt. Eine Routineuntersuchung, die trotzdem viel Konzentration erfordert. »Gerade der Darm hat unübersichtliche Stellen und bewegt sich während der Untersuchung. Da kann man schnell etwas übersehen.«
Übermüdung ist für eine solche Arbeit natürlich kaum förderlich. »Fehler aufgrund von Konzentrationsproblemen kennt jeder meiner Kollegen«, sagt Preißner. »Es fällt vielen nur schwer, sich diese Tatsache einzugestehen.« Mittlerweile ist er mit dem Endoskop auf einen Dickdarm-Tumor gestoßen, »wahrscheinlich bösartiger Natur«. Gewebeproben sollen genaue Auskunft geben. Nebenbei entfernt der Assistenzarzt mit Hilfe einer kleinen Drahtschlinge noch drei Polypen. Dann wartet die lästige Schreibarbeit des Befundes. »Das ist das Schlimmste von allem.« Auf Preißners Schreibtisch liegt noch ein riesiger Stapel Patientenakten zur Bearbeitung. »Alles Briefe, die geschrieben werden müssen, aber das schafft man nebenbei oft nicht mehr.«
Die tägliche Röntgen-Besprechung versäumt er aufgrund der relativ langen Endoskopie-Untersuchung heute auch. Stattdessen geht es ohne Unterbrechung zur Sprechstunde weiter, die Preißner einmal in der Woche anbietet. »Als Fachbereich haben wir halt spezielles Wissen zu Magen-Darm-Erkrankungen. Das wollen wir natürlich so gut es geht weitergeben.« Wie so vieles, läuft auch dieses Angebot zusätzlich neben der normalen Tätigkeit auf der Station.
»Was mich an meiner Situation am meisten stört, ist der Sozialneidgedanke«, sagt Preißner. »Viele denken immer noch, dass alle Ärzte unglaublich reich sind.« Dabei sieht die Realität ganz anders aus. »Bei uns gibt es unverheiratete Kolleginnen, die verdienen mit Steuerklasse eins keine 2000 Euro netto im Monat. Da fragt man sich schon, wofür man sechs Jahre studiert und nochmal sechs Jahre seinen Facharzt gemacht hat.« Dass sich die Ärztegewerkschaft Marburger Bund jetzt wehrt und bessere Arbeitsbedingungen fordert, hält er für richtig. »Bei vielen Leuten kommt aber nur an, dass die Ärzte 30 Prozent mehr Gehalt und dafür weniger arbeiten wollen.«
Im Wartezimmer sitzen heute nur zwei Patienten für die Sprechstunde. In beiden Fällen muss eine Ultraschalluntersuchung vorgenommen werden. Dazu ein ausführliches Gespräch über die aktuelle Befindlichkeit und vorherige Therapiemaßnahmen. »Jeder Patient glaubt von sich, der am stärksten Erkrankte zu sein«, sagt Preißner. Da ist es wichtig, jedem die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Dass mittlerweile 32 Stunden Dienst am Stück hinter ihm liegen, interessiert da weniger. Ganz im Gegenteil. »Die Bereitschaft, auf den Arzt zu warten, hat in den letzten Jahren stark nachgelassen. Manchmal würde ich mir wünschen, dass Patienten stärker reflektieren, welchen Umständen ein Arzt tagtäglich ausgesetzt ist.«
Im Anschluss an die Sprechstunde wartet auf Preißner die zweite Visite des Tages. Eine ältere Dame muss mit zur Ultraschall-Untersuchung. Im Fahrstuhl jammert sie, bittet den Arzt: »Geben Sie mir doch eine Spritze. Ich kann und will nicht mehr.« Auch ihr schenkt er ein Lächeln, beruhigt sie und lobt ihre Heilungsfortschritte. »Der Anteil der Seelsorgearbeit ist im Krankenhaus halt hoch«, sagt er und zuckt fast gleichgültig mit den Schultern.
Der reguläre Feierabend naht, aber die Visite ist noch nicht beendet, und eine weitere Ultraschall-Untersuchung steht auch schon wieder auf dem Programm. »Vielleicht noch zwei Stunden«, schätzt Preißner. Dann wird er zu Hause wie immer »halbtot aufs Sofa fallen«, wenn nicht noch Fortbildungsunterlagen darauf warten, gelesen zu werden. Wann er das letzte Mal richtig Freizeit hatte, weiß er nicht so genau. »In diesem Jahr bin ich ja noch nicht einmal mit den Kollegen für einen Glühwein auf den Weihnachtsmarkt gekommen.«

Artikel vom 20.12.2005