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Die Wahrheit
liegt ganz tief

Auftaktlesung von Robert Menasse

Von Manfred Stienecke
(Text und Foto)
Paderborn (WV). In seinen Büchern behält Robert Menasse stets den Überblick. Bei seiner Paderborner Auftaktlesung aber wäre der Wiener Gastautor beinahe im Nebel stecken geblieben.

Doch dank des nahen Flughafens und eines flinken Taxifahrers reichte es gestern Nachmittag so eben noch, um fast pünktlich die 24. Gastdozentur für Schriftsteller an der Universität zu eröffnen. Mit unverkennbarem österreichischen Tonfall, dabei »aufgeräumt« und dort, wo es sich anbot, genüsslich in verteilten Rollen lesend, stellte der 51-Jährige in appetitmachenden »Häppchen« sich und natürlich sein Werk vor.
Für die Auftaktlesung hatte Menasse eine kurze Erzählung sowie jeweils einen Ausschnitt aus zwei seiner Romane ausgewählt. Und schon die Kurzgeschichte zeigte, wie raffiniert der promovierte Literaturwissenschaftler die Aufmerksamkeit seiner Leser und Zuhörer einzufordern versteht. Immer wieder bricht der Erzähler seinen Bericht ab: »Nein, ich möchte neu anfangen«, sucht er einen anderen Einstieg in seine Geschichte und greift dabei immer weiter zurück - über die Studien- und Schulzeit in seine Kindheit, schließlich sogar über die Geburt bis zum Augenblick der Zeugung. Doch die Wahrheit liegt viel tiefer.
So tief wie bei Hegel vielleicht, dessen Idee von der Macht des Geistes über die Materie Menasse in seinem Roman »Selige Zeiten, brüchige Welt« (1991) mit einer phantastischen Geschichte und Anleihen bei Karl May abhandelt. Wie ist es möglich, fragt er, eine Pistolenkugel mit den bloßen Zähnen aufzufangen? - und lässt seine Mutmaßung nicht ohne Pointe enden. Auch die dritte Leseprobe, das Einstiegskapitel aus dem Roman »Die Vertreibung aus der Hölle« (2001), demonstriert das wohldosierte Spannungsmoment: Wie wird es Viktor schaffen, in der angedeuteten halben Stunde die aufwändig vorbereitete Feier zum 25-jährigen Matura-Jubiläum zu sprengen? - auch hier mit überzeugender Lösung.
»Wir hatten Robert Menasse schon 2001 mit einer Lesung in Paderborn zu Gast mit einer solch lebhaften Diskussion, dass wir ihn gleich auf die Wunschliste für die Gastdozentur gesetzt haben«, begrüßte ihn der Gründer der Reihe, Prof. Dr. Hartmut Steinecke, im gut gefüllten Hörsaal C 1. »Im dritten Anlauf hat es jetzt geklappt.« An fünf weiteren Montagen (9. Januar bis 6. Februar 2006, jeweils 16.15 Uhr) wird dieser nun sein Rahmenthema »Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung« aus verschiedenen Perspektiven in Angriff nehmen.
Bei der Ankunft in der Uni fiel Menasses Blick auf ein Plakat des Büchner-Preisträgers von 2004, Wilhelm Genazino. »Wann war der hier?«, erkundigte er sich bei Steinecke. »Ich möchte nur wissen, wie lange es von Paderborn bis zum Büchner-Preis dauert.«

Artikel vom 13.12.2005