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Wissen über früher
hilft beim Verstehen

Berufskollegschüler bei Geschichtswettbewerb

Bad Oeynhausen (AM). »Ich verstehe jetzt, warum es sinnvoll war, 1949 die Brüder- und Schwesternschaft Wittekindshof zu gründen. Denn so etwas darf nie wieder geschehen«, sagt Sandra Burmester. Sie hat sich mit der Geschichte der Diakonischen Stiftung Wittekindshof in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt.

Das Thema stand schon seit längerer Zeit im Raum. Ein Geschichtswettbewerb war letztendlich ausschlaggebend dafür, dass sich die Oberstufenklasse des Evangelischen Berufskollegs Wittekindshof dafür entschieden hat, sich im Rahmen des Politikunterrichtes mit dem Alltagsleben von Menschen mit Behinderungen in der NS-Zeit auseinanderzusetzen. Um entsprechende Informationen zu bekommen, haben die angehenden Heilerziehungshelfer auf Bücher und Erläuterungen im Internet zurückgegriffen und Gespräche mit Zeitzeugen ausgewertet.
Der Wittekindshofer Archivar Rainer Kregel erklärte, dass im Herbst 1941 956 Bewohner in andere westfälische Einrichtungen verlegt wurden. Von ihnen haben mindestens 400 behinderte Frauen, Männer und Kinder nicht überlebt. Sie wurden Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.
Aus Gesprächen mit Überlebenden und mit ehemaligen Mitarbeiter erfuhren die Schüler, dass der Abtransport aus dem Wittekindshof bei vielen Bewohnern mit Angst verbunden gewesen sei, andere aber auch dachten, sie würden einen Busausflug machen, was in der damaligen Zeit nur sehr selten möglich gewesen sei.
»In den Aussagen der Zeitzeugen waren sehr unterschiedliche Sichtweisen erkennbar«, berichtete Katy Gordalla. »Es ist sehr schwierig zu entscheiden, inwieweit man die persönlichen Erinnerungen für eine geschichtliche Darstellung verarbeiten kann.« Trotzdem waren die Schüler froh, dass die Menschen heute über die NS-Zeit reden und bedauerten es, dass sie nicht noch mehr Zeitzeugen befragen konnten.
Nicht nur für Sylke Dubbel ist es erschreckend, sich vorzustellen, wie stark sich der heutige Alltag der Menschen mit Behinderungen, der durch Individualität, Selbstständigkeit und Selbstbestimmung geprägt sei, von früheren Lebensbedingungen unterscheide: »Früher wurden Spaziergänge immer mit 15 bis 20 Menschen gemacht, und die Bewohnern mussten in großen Sälen schlafen. Menschen, die heute einfach einen Dauerkatheter bekommen, durften damals kaum raus und bekamen nur ganz wenig zu trinken, damit sie nicht so oft zur Toilette mussten«, berichtetet Sylke Dubbel. Sie hat durch die Zeitzeugengespräche auch ihren Arbeitsalltag besser verstehen gelernt: »Jetzt weiß ich, warum eine Bewohnerin bei uns mittags nicht ins Bett geht, sondern immer mit verschränkten Armen im Sitzen schläft. Früher mussten sie so sitzen und durften nicht ins Bett.«
Die Hauptergebnisse ihrer Erarbeitungen über die Geschichte des Wittekindshofes in der Zeit des Nationalsozialismus haben die Schüler des Evangelischen Berufskollegs beim Geschichtspreis 2005/2006 in Bielefeld eingerecht, der vom Verein zur Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Wehrmacht gestiftet wurde.
Anfang Dezember ist die Jury zusammengetreten und hat den oder die Preisträger ermittelt. Das Ergebnis wird öffentlich bei der Preisverleihung am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, in Bielefeld bekannt gegeben. Egal ob die Schüler aus dem Wittekindshof dann die 1 000 Euro oder einen Teil des Preisgeldes in Empfang nehmen können oder nicht, sind sie wie auch die übrigen sieben Autorengruppen, die Arbeiten eingereicht haben, zur Preisverleihung eingeladen.

Artikel vom 14.12.2005