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Die Kolumne Stadtgespräch erscheint mittwochs in dieser Zeitung.

Stadt
Gespräch

40 Jahre am »Katzentisch« (149. Folge): Findelkind Otto im Westphalenhof


Wo würde er heute leben, wie würde er heißen? Könnte er sich mit seiner Frau, Kindern und Enkelkindern auf Weihnachten freuen? Was wäre aus ihm geworden, hätte es schon 1922 in unserer Region eine Babyklappe gegeben? Denn der heute 83-jährige Otto ist ein Findelkind und lebt seit 1987 im Westphalenhof an der Giersstraße.
Otto war ein schutzloses Baby, einfach abgelegt im Graben neben der Straße Paderborn-Salzkotten an einem kalten Märztag. Zum Glück entdeckten Passanten das wimmernde Würmchen, eingewickelt in Sackleinen. Das Kind wurde getauft, erhielt den Namen Otto und wechselte jahrelang in der Betreuung. Ein Familienleben in Geborgenheit und Nestwärme blieben ihm unbekannt.
Nach einer beschwerlichen Wegstrecke kam er auf einen Bauernhof bei Lippstadt unter. Er packte dort tüchtig an in der Landwirtschaft und erfuhr auch die Güte des Familienanschlusses. Mit 65 Jahren ging er »in Rente«, wurde Bewohner des Altenheimes. In »seinem Westphalenhof«, den er bei allen Gelegenheiten lobt. Geschäftsführer Josef Müller und Schwester Ruth nahmen ihn in beschützende Hände.
Meine erste Begegnung mit Otto hatte ich 1991. Im Altersheim machte er sich mit kleinen Arbeiten nützlich. Er brachte Essen in die Zimmer und packte zu, wenn Not am Mann war.
Als Otto 1992 70. Geburtstag feierte, erfreuten ihn Frauen der Maspern-Vorstandsmitglieder mit festlichen Stunden im Sportzentrum am Schützenweg. Auf die Schützen läßt er nichts kommen. Er ist ganz stolz, wenn er als erster den Namen der neuen Schützenkönigin ausplaudern kann.
Otto ist stadtbekannt. Im Dom gab er lange Jahre im sonntäglichen Hochamt Gesangbücher an die Gläubigen aus. Auf dem Wochenmarkt kennen ihn noch heute fast alle Beschicker. Über ein Stückchen Wurst oder Obst freut sich hier das liebenswürdige Raubein. Auf dem Bahnhof half er Reisenden beim Koffertragen und besserte so sein karges Taschengeld auf.
Im fortgeschrittenen Alter ist Otto nun seit einem Jahr auf den Rollstuhl angewiesen. Mit dessen Hilfe unternimmt er weiterhin die Erkundigungen, kommt mit vielen Mitbürgern ins Gespräch und freut sich sonntags auf die Sportseiten in der »Welt am Sonntag«, die ihm Westphalenhof-Mitbewohnerin Paula Hermes überläßt.
Was wäre aus Otto geworden, hätte ihn seine Mutter nicht im Straßengraben abgelegt? Fünf solcher schützenden Einrichtungen gibt es in Ostwestfalen-Lippe. Die erste in Deutschland wurde 2000 in Hamburg eröffnet. In Paderborn ist es eine solche Einrichtung als »Moses-Baby-Fenster« seit Ende 2002 gegenüber dem Vincenz-Krankenhaus. Ein Baby wurde im vorigen Jahr dort abgelegt. Die Vincentiner-Ordensschwestern nahmen das höchstens drei Tage alte Mädchen in ihre Obhut. Das Jugendamt der Stadt fand geeignete Adoptiveltern.
Babyklappen sollen einen Rettungsweg aus tiefer Menschennot weisen. Sie sollten flächendeckend eingerichtet werden und könnten dazu beitragen, Tragödien nicht willkommener oder ungeliebter Kinder zu verhindern. Im nahen Kassel fanden in diesem Sommer Spaziergänger vier tote Säuglinge.
Otto hatte Glück als Findelkind. Er meisterte sein Leben durch harte Arbeit in der Landwirtschaft und verbringt nun seinen Lebensabend in liebevoller Obhut. Er hat einen hohen Bekanntsheitsgrad, hört immer wieder »Na, Otto, wie geht`s?
Jüngst hatte Otto allen Grund zum Ärgern. Die Post hatte es gewagt, den Briefkasten an der Altersheim-Wand in der Giersstaße abzumontieren und auf der anderen Seite der Heiersstraße wieder anzubringen. »Jetzt müssen wir immer über die Straße zum Briefkasten!« Georg Vockel

Artikel vom 07.12.2005