23.11.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Schulden bei Verwandten

Guthaben in der Türkei, aber Geld vom Arbeitsamt

Von Thomas Hochstätter
Bad Oeynhausen (WB). Obwohl sie auf einem Bankkonto in der Heimat umgerechnet rund 75 000 Euro angelegt hatte, bezog eine Türkin umgerechnet rund 20 000 Euro vom Arbeitsamt. Das Amtsgericht stellt das Verfahren gegen die 54-Jährige gestern jedoch ein.

In der Verhandlung hatte sich herausgestellt, dass kein klassischer Missbrauch der sozialen Sicherungssysteme vorliegt. Vielmehr zeigte der Fall die Schwierigkeiten von so genannten Gastarbeitern, die zwar seit Jahrzehnten in Deutschland leben, aber nie richtig angekommen sind.
Hatice Z. (Name geändert) war am Dienstag nicht in der Lage, ihre Geschichte zu erklären. Das lag aber nicht nur an Sprachschwierigkeiten, die ein Dolmetscher zu überbrücken versuchte, sondern auch an ihrer psychischen Verfassung. Nach Angaben ihres Verteidigers ist dies auch der Grund für eine jüngst zugestandene Erwerbsunfähigkeitsrente.
So erzählte der Jurist vom Leben seiner Mandantin. Demnach sei ihr Mann 1970 nach Deutschland gekommen. Sie selbst sei ihm drei Jahre später gefolgt und habe 1976 eine Stelle gefunden - in einer »Klebefabrik, und die dortigen Dämpfe haben sie gesundheitlich geschädigt«, berichtete ihr Anwalt. Mindestens ebenso starken Eindruck hinterließ jedoch die Trennung von ihren Kindern. »Sie waren damals zehn Monate und sieben Jahre alt, als ich sie in der Türkei zurückließ. Ich habe mich immer verantwortlich gefühlt«, ließ die Angeklagte ihn sagen. Der Eindruck entstand, dass dies - neben den türkischen Gebräuchen - Grund für die Mühen gewesen sein könnte, die das Ehepaar zugunsten von Sohn und Tochter auf sich nahm: Sie ließen nicht nur Sohn und Tochter studieren. Sie finanzierten dem Sohn auch zwei Verlobungen und eine Hochzeit, wie der Anwalt berichtete.
Die erste Verlobung 1994 habe nur einen Tag gehalten - ein Zerwürfnis mit den Schwiegereltern. Dennoch seien Geschenke wie Schmuck, Geld und Möbel im Wert von mehr als 43 000 Mark bei der Familie der Braut geblieben. »Das wird in der Türkei so gehandhabt«, bestätigte der Dolmetscher Richterin Britta Kurhofer-Lloyd. Für die zweite, erfolgreiche Verlobung 1997 waren dann 80 000 Mark fällig.
Von dem von 1991 bis 1998 angesparten Guthaben bei einer türkischen Bank von rund 150 000 Mark wäre also kaum noch etwas übrig gewesen - und beim deutschen Arbeitsamt hätte es nie ein Problem gegeben. Doch das Geld war bei der Bank festgelegt. So liehen der Mann der Schwester der Angeklagten und der Bruder ihres Mannes und ein Neffe dem Ehepaar jeweils mehrere zehntausend Mark. Notarielle Bescheinigungen darüber entstanden erst 2004, als die Frau schon keine Arbeitslosenunterstützung mehr erhielt. Nicht nur die Staatsanwältin fragte sich, ob diese Urkunden erst unter dem Druck des drohenden Verfahrens aufgesetzt worden seien.
»Für meine Mandantin war immer klar: ÝIch habe kein Geld, ich habe SchuldenÜ«, erklärte der Verteidiger. Das Arbeitsamtsformular habe die Frau, die nie eine Schule besucht haben und weder Deutsch noch Türkisch schreiben können soll, womöglich nicht verstanden.
Richterin und Staatsanwältin waren sich einig, das Verfahren auf Kosten der Staatskasse einzustellen. Wenngleich Richterin Kurhofer-Lloyd darauf hinwies, dass der Tatbestand, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil verschafft zu haben, objektiv vorhanden sei. Der Frau sei dies aber wohl nicht klar gewesen. Positiv wertete sie, dass die 54-Jährige die mehr als 20 000 Euro an die Agentur für Arbeit zurückgezahlt hat. Wofür die Oeynhausenerin sich laut ihres Anwalts erneut bei Verwandten verschuldete.

Artikel vom 23.11.2005