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Von Pfarrer Bernd Kollmetz

Das Wort zum Sonntag


DDie vergangenen Tage konnten einem vergessen machen, dass wir uns im November befinden. Sonnendurchflutete Tage und in Bezug auf die Jahreszeit angenehme Temperaturen passen überhaupt nicht zu den Vorstellungen, die wir uns von diesem Monat machen. Eher verbinden wir mit ihm trübes, schmuddeliges Wetter. Vorstellungen der Gedankenwelt und Wirklichkeit des Lebens gehen nicht immer Hand in Hand.
Szenenwechsel: Die Stimmung in unserem Land scheint sich treffender mit der eigentlichen Novemberstimmung in Verbindung bringen zu lassen. Die Verantwortlichen in Berlin werden bei ihrem Machtpoker dem Gemeinwesen angesichts der finanziellen Situation nichts anderes anbieten können als den Offenbarungseid. Zu lange sind wir der Illusion aufgesessen, dass der rechtliche Sozialstaat in seiner Leistungsfähigkeit für alle Zeiten ohne Unterlass funktionieren könnte. Und da hilft es wenig, jetzt nach den Schuldigen zu suchen. Denn wir alle haben doch insgeheim dieser Vorstellung mehr Raum gegeben als der Wirklichkeit, die ihre mahnende Stimme früh genug erhoben hat.
Nochmaliger Szenenwechsel: Morgen ist Volkstrauertag. Wir gedenken der Opfer der beiden Weltkriege und Gewalttaten. Furchtbares Leid hat die Vorstellungsfähigkeit des menschlichen Geistes über Europa gebracht, weil man glaubte, das Recht zu besitzen, seine Idee notfalls mit Gewalt und Terror umsetzen zu dürfen. Die Wirklichkeit hat schonungslos gezeigt, wohin der Weg führen musste. Und wir sollte uns heute davor hüten, zu meinen, dies könne bei uns nie wieder geschehen. Die Bilder aus Paris, denen sich die von dem Bombenterror in Jordanien hinzufügen, warnen vor solchen Vorstellungen.
Vorstellungen, Illusionen scheinen zu unserer menschlichen Natur und Fähigkeiten zu gehören. Sie üben eine gewisse Macht aus. So stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen. Bonhoeffer bemerkte dazu: »Wenn schon die Illusion im Leben der Menschen eine so große Macht hat, dass sie das Leben in Gang hält, wie groß ist erst die Macht, die eine begründete Hoffnung für das Leben hat, und wie unbesiegbar wird das Leben.« Es geht um die rechte Beziehung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Wie gewinnt das Leben an Bewegung, damit es nicht in der Sackgasse der Enttäuschungen endet, sondern dass sich im Durchgangsverkehr des Lebens Zuversicht und Hoffnung begegnen können. Und die Macht, die unser aller Leben in Gang hält, ist Gott, der für uns da sein will. In dem Wochenpsalm heißt es: »Gott, der Herr, der Mächtige, redet und ruft der Welt zu vom Anfang der Sonne bis zu ihrem Niedergang.« Seine Gegenwart findet den Weg in die Vorstellungen, die wir uns von unserem Leben machen. Und sie enden nicht in fragwürdigen Illusionen, die durch die Wirklichkeit enttarnt werden als das, was sie sind, nämlich Lug und Trug. In den von Gottes Gegenwart bestimmten Vorstellungen entwickelt sich der Horizont, die Perspektive des Lebens als ein Leben des Vertrauen, der Hoffnung und der Liebe als Lebensstraßen, die hineinmünden in das Leben selbst und so zu Gott führen.

Artikel vom 12.11.2005