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Das Wort zum Sonntag

Von Gemeindereferentin Mechthild Bömelburg


Auch wenn wir in diesem Jahr einen schönen, manchmal fast frühlingshaften November hatten, macht uns dieser elfte Monat doch deutlich, dass die letzten Wochen des Jahres angebrochen sind. Und wie von selbst taucht wieder der Gedanke auf: Schon wieder ein Jahr vorbei, wie schnell die Zeit vergeht.
Wie schnell die Zeit vergeht, damit meint jeder für sich: Wie schnell meine Zeit vergeht. Zwischen der Ewigkeit vor meiner Geburt und der Ewigkeit nach meinem Tod ist mir meine Zeit auf Erden geschenkt. Auf mittelalterlichen Grabsteinen ist oft die Darstellung einer Sanduhr zu sehen, als Zeichen für die Begrenztheit unserer Zeit. Eine Sanduhr zeigt für uns alle sichtbar, besser als unsere Armbanduhren, wie die Zeit fließt. Wir können sie nicht aufhalten, unsere Lebensuhr nicht zurückstellen oder sie länger laufen lassen. Doch jedes Sandkörnchen, das durch den schmalen Spalt der Sanduhr fällt, ist ein Teil unserer Lebenszeit, die wir ausnutzen, ausleben, auskosten können.
»Schon wieder ein Jahr vorbei, wo ist bloß die Zeit geblieben?« Was bleibt eigentlich von der Zeit, die verrinnt? Das Bild der Sanduhr kann uns einen Anhaltspunkt geben. Der Sand läuft nicht ins Leere, er wird in dem Glas gesammelt. Auch unsere Zeit läuft nicht ins Leere, verrinnt in unseren Händen.
Wir Christen können uns das Glas der Sanduhr wie die geöffneten Hände Gottes vorstellen. In diesen Händen Gottes wird unsere Zeit aufgefangen und gesammelt und ist dort gut aufgehoben. Gott lässt uns in unserer Zeit nicht allein. Gott kommt uns in unserer Zeit entgegen. Der Anfang des Johannes-Evangeliums erzählt davon, dass Gottes Wort in Jesus Fleisch geworden ist und unter uns wohnt. Die Menschwerdung Jesu ist das Zeichen Gottes, dass er uns in unserer Zeit begegnen möchte. Unsere Zeit hier auf Erden ist sein Geschenk an uns.
Aber die Zeit, unsere Zeit, ist mehr als eine Aneinanderreihung von Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen und Wochen. Es ist unsere Lebens-Zeit, in der Gott wirken möchte. In dem Roman »Momo« von Michael Ende sagt Meister Hora: »So wie wir Augen haben, um das Licht zu sehen, und Ohren, um Klänge zu hören, so haben wir ein Herz, um damit die Zeit wahrzunehmen. Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren, wie die Farben des Regenbogens für einen Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben. Aber es gibt leider blinde und taube Herzen, obwohl sie schlagen. Denn Zeit ist Leben, und das Leben wohnt im Herzen.«
Zum Schluss noch eine kleine Geschichte: Ein chinesischer Professor kam nach Berlin. Sein deutscher Kollege erwartete ihn am Bahnhof. Weil ihr Bus schon an der Haltestelle stand, ergriff der Deutsche schnell die Hand des Chinesen.
»Kommen sie rasch!« rief er ihm zu. Die beiden liefen hastig über den Platz und stiegen eilig in den Bus, der sich - kaum dass sie saßen - in Bewegung setzte. Aufatmend schaute der Deutsche auf die Uhr und sagte: »Gott sei Dank! Jetzt haben wir zehn Minuten gewonnen!« Der Chinese aber fragte ihn mit sanfter Stimme: »Und was machen wir jetzt mit diesen zehn Minuten?«
Einen schönen Sonntag und eine gute Woche wünschtMechthild Bömelburg, Gemeindereferentin

Artikel vom 12.11.2005