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Christian Rasch ist Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde Herringhausen.

Gedanken zum Wochenende

Von Pfarrer Christian Rasch


Die Chance der Erinnerung: Es ist November geworden. Die Tage werden trotz des schönen Wetters dunkler, und wir spüren die Vergänglichkeit der Zeit. Wir können die fallenden Blätter nicht aufhalten. Nun kommt die Zeit, in der die Natur sich zurückzieht, eine graue und düstere Zeit. Gedenktage säumen den Weg. Aber sind es wirklich unsere Gedenktage oder stammen sie aus einer früheren Generation?
Der Volkstrauertag kommt in den Blick. Viele ältere Menschen erinnern sich wissend und ermahnend. Kaum eine Familie in Deutschland hat der wahnwitzige Krieg vor über sechzig Jahren verschont. Ehemänner und Frauen, Kinder und Großeltern, Verwandte und Freunde, Unschuldige und Schuldige fielen dem Grauen millionenfach zum Opfer. Auf der anderen Seite steht die junge Generation. Oft mit Unverständnis. Kaum jemand von uns jungen Leuten musste jemals wirklich hungern oder im Winter frieren. Die meisten von uns wissen nicht, wie es sich anfühlt, sein Leben zu verteidigen und auf Leben und Tod mit einem Feind zu kämpfen. Auch die moderne Kirche hat sich mit dem Erinnern oft schwer getan. Es kam ihr befremdlich vor, die Gefühle der alten Kameraden mit ansehen zu müssen, die von Erfahrungen sprachen, die man selbst nie gemacht hatte.
Wir Heutigen vergessen manchmal: Erinnern ist Arbeit - oftmals sogar harte Arbeit. Wir müssen uns dem stellen, was da aus der Vergangenheit aufsteigt. Wir müssen eingestehen, wo wir versagt haben und mutiger hätten bekennen müssen. Wir müssen mit dem Leid fertig werden, das wir verursacht haben und das wir selbst vielfach ertragen haben. Für dieses Erinnern, das eine Lehre aus dem Geschehenen ziehen will, steht der Volkstrauertag. Die Unverbesserlichen brauchen keinen Volkstrauertag.
Und die Kirche? Welchen Platz hat sie an diesem Tag? Kirche selbst und viele ihrer Mitglieder sind damals wie heute schuldig geworden, sei es durch falsche Taten oder unterlassene Hilfe. Darum tut es auch der Kirche gut, sich immer wieder zu erinnern. An ihre Schuld und an ihren Auftrag. Denn Kirche soll in der Welt ein Ort des Friedens und der Versöhnung sein. Der Kirchenvater Augustinus (geboren am 13. November 354), der Zeit seines Lebens viele Kriege mit ansehen musste, schreibt dazu: »Die Kirche ist der Ort, an dem die Menschheit ihre Einheit und ihr Heil wieder finden soll. Sie ist die versöhnte Welt.« Nutzen wir den Volkstrauertag als einen Tag, an dem wir uns versöhnen lassen - mit dem Gestern, mit dem Heute und mit der Ewigkeit.

Artikel vom 12.11.2005