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»Die Flügel sind gewissermaßen
zur Uniform der Engel geworden«

Dank Künstlerhand landen die himmlischen Boten beschwingt auf der Erde

Engel gehören zu Weihnachten wie das Amen in der Kirche - nur wie sie aussehen, das weiß man bis heute nicht. Folgt man Umfragen, glauben in vielen europäischen Ländern nach wie vor zwei Drittel der Menschen an die bizarren Flügelwesen. Ausgerechnet an Engel, die sich gläubige Christen als »körperlose Wesen« vorzustellen haben.
In der »Engel-Galerie« in Mönchengladbach sind alle Himmelsboten käuflich. Die Inhaberin Renate Wirtz dekoriert ihre insgesamt 150 unterschiedlichen Engelsfiguren aus Holz, Porzellan, Bronze oder Alabaster-Ersatz ständig neu.
Die »ersten Engel« waren weder blonde Knaben noch holde weibliche Gestalten. »Und siehe, da stand ein Mann, der hatte leinene Kleider an und einen goldenen Gürtel um seine Lenden. Sein Leib war wie ein Türkis, sein Antlitz sah aus wie ein Blitz, seine Augen wie feurige Fackeln ... und seine Rede war wie ein großes Brausen.« So wortgewaltig erzählt der Prophet Daniel im Alten Testament. Entgegen landläufigen Vorstellungen: Die biblischen »Himmelssöhne« waren stets Männer - und die Gefühle, die sie verbreiteten, hatten ganz und gar nichts Anheimelndes an sich. Angst und Schrecken flößten sie demjenigen ein, der sie erkannte. Von Flügeln war dagegen nicht die Rede.
Ziemlich prosaisch geht es dagegen ausgerechnet in der Weihnachtsgeschichte zu. »Der Engel trat bei Maria ein« - lapidarer hätte sich der Evangelist Lukas nicht ausdrücken können. Keine weitere Beschreibung, kein Wort von holder Gestalt. Immerhin entschließt sich der Besucher namens Gabriel laut Lukas zur höflichen Anrede. »Sei gegrüßt, Du Begnadete«. Doch noch bevor er weiterspricht, liest er Maria die Angst von den Augen ab. »Fürchte Dich nicht!«, versucht er sie zu beruhigen.
Und nachdem er der jungen Frau die Geburt des Knaben vorhersagt, den sie Jesus taufen soll, schreibt Lukas kürz und bündig: »Dann verließ sie der Engel.« Vom Hinaufschweben in den Himmel ist wieder nicht die Rede. Dafür übernimmt er hier die »klassische« Aufgabe, der alle Artgenossen ihren Namen verdanken - »Angelos« (Griechisch: Bote), diejenigen eben, die Nachrichten aus himmlischen Sphären überbringen.
»Engel sind älter als alle Religionen - und sie kommen auch noch zu den Menschen, die von Religionen nichts wissen wollen«, meinte der frühere Heidelberger Theologieprofessor Claus Westermann vor Jahren. Noch heute vermögen sie zu faszinieren, etwa im Hollywood-Streifen »Stadt der Engel«, der in Los Angeles spielt. Da ist der Engel für die meisten Menschen unsichtbar und hält sich in Krankenhäusern auf, weil er die Seelen der Toten in den Himmel begleiten muss. Ansonsten geht das Himmelswesen, alias Nicolas Cage, an den Strand und lauscht den Sphärenklängen, die Normalsterbliche freilich nicht hören können.
Unsichtbar sind die Himmelswesen für diejenigen, denen sie sich nicht offenbaren. »Reiner Geist ohne Beimischung von Materie«, an »keine menschliche Leiblichkeit gebunden«, wie es in modernen theologischen Lexika heißt - aber höchst real eben für diejenigen, die »besucht« werden. Längst vorbei sind dagegen die Zeiten, da Gläubige sich die Außerirdischen als Ätherleiber (»hell strahlend wie die obere Himmelsluft«) oder Feuersäulen vorzustellen hatten. Nur: Irgendwie erzählen, irgendwie darstellen wollten Gläubige, Künstler und Theologen die Erfahrung mit den geheimnisvollen Wesen zwischen den Welten schon.
»Der Engel wird ungeschlechtlich gedacht, ist unsterblich, von Gott geschaffen und dem Menschen zur Seite gestellt«, charakterisiert der Religionspädagoge Uwe Wolff die Himmelsboten heute. Das nähert sich schon fast der Vorstellung des Schutzengels, der viele Menschen nachhängen. Auch diese Spezies wird mit Flugwerkzeugen bedacht, meist im weißen, langen Gewand - und prächtigen Schwingen.
»Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung sind die Engel in der Bibel ungeflügelt«, stellte der deutsche »Angeologe« Heinrich Krauss fest. Ausnahme waren lediglich die martialischen Cheruben, die mit loderndem Flammenschwert den Garten Eden bewachten. Als »beschwingte Ungeheuer« stellte man sich die Cheruben vor, als »Mischgestalten aus Menschenkopf, Löwenleib, Stierfüßen und Adlerflügeln.«
Es waren denn auch nicht die Theologen, sondern vor allem die Künstler, die den himmlischen Boten Schwingen verliehen, als Zeichen der »Freiheit von der Erdenschwere«. Schließlich verkehren sie ja zwischen dem Diesseits und Jenseits und flüstern den Menschen himmlische Botschaften ein.
Einmal angefangen mit den Flugwerkzeugen, kannte die Fantasie bald keine Grenzen mehr. Den Meldegängern zwischen den Welten wuchsen majestätische weiße Schwingen oder schillernd-glänzende Pfauenfedern, die höllischen Geister dagegen bekamen Fledermaus-Flughäute - die molligen Putten hatten Stummelflügel. »Die Flügel«, sagt ein Theologe, »sind gewissermaßen zur Uniform der Engel geworden.«
Und die einst mächtigen und Furcht einflößenden Männer-Engel sind seit Jahrhunderten durch Künstlerhand zu anmutigen weiblichen Gestalten geworden, mädchenhaft und mild. Das ist das weihnachtlich-liebliche Engelsbild, das heute vorherrscht. Der Autor Walter Nigg klagte denn auch über eine »allmähliche Verflüchtigung« der Engelvorstellung. »Die sentimentalen Kitschbilder von Engeln, die ein Kind schützend über einen Steg begleiten, vollenden die rührselige Vorstellung. Wie sollte von diesen lächerlichen Himmelsbabys ... noch ein nachhaltiger Eindruck auf die Menschen ausgehen?« Vor allem, weil man auch heute noch nicht so recht weiß, wie Engel eigentlich aussehen.

Artikel vom 24.12.2005