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Biographie und ein Stück Fiktion

Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel stellt Roman »Menschenflug« vor

Versmold (mh). »Die Frage der Biographie ist immer da« - mit diesen Worten leitete der in Versmold geborene Lyriker, Autor und Professor Hans-Ulrich Treichel die Lesung seines neuen Romans »Menschenflug« ein, die er am Montagabend im Altstadthotel hielt. Eingeladen hatten die Stadtbibliothek und die Buchhandlung Krüger.

Nachdem sich der in Berlin und Leipzig lebende Autor am Nachmittag ins Goldene Buch der Stadt eingetragen hatte, las er am Abend vor mehr als 150 Zuhörern, die längst nicht alle nur aus Versmold stammten. Treichel ist eine der bekanntesten Versmolder Persönlichkeiten, im Februar wird er den Hermann Hesse-Preis erhalten.
Als Einstieg in die Lesung nutzte er fünf Gedichte seiner »vorprosaischen« Zeit, darunter »Beim Durchfahren der Landschaft«, mit dem er auf eine der zentralen Fragen seines Romans einlenkte. »Wenn ich aus dem Waggonfenster Menschen sehe, stelle ich mir manchmal vor, dass ich sie wäre«, erklärte er. Die schicksalhafte Größe unserer Biographie könnten wir nur sehr bedingt selbst bestimmen. »Aber an so vielen Punkten hätte es auch anders kommen können.« Stephan, der Held im »Menschenflug«, hat die fünfzig Jahre überschritten und durchläuft eine innere Lebenskrise. »Stephan ist in vielen Punkten mit mir verwandt«, erläuterte Hans-Ulrich Treichel, »er hat dasselbe Lebensalter, arbeitet ebenfalls an einer Universität und blickt auf ein ähnliches Schicksal wie ich zurück: Auch er hat zu Kriegsende einen Bruder verloren.«
Über dessen Verlust schreibt Stephan ein Buch - in erster Linie, um sich von der quälenden Seelenlast zu befreien. Nach einer Lesung wird er von einem Mann namens Wilhelm angesprochen, der behauptet, selbst ein »Verlorener« zu sein und sich ab diesem Zeitpunkt an Stephans Fersen heftet. Offensichtlich scheint er zu glauben oder zumindest zu hoffen, dass er Stephans Bruder sein könnte. Doch dieser möchte seinem Bruder auf gar keinen Fall begegnen.
Treichel erzählt die Geschichte eines herzkranken Mannes, den die Vergangenheit belastet, der penibel auf sein Erscheinungsbild achtet und der kaum Freunde hat. Ein unsicherer Mann, auch ein wenig unkontrolliert. Die Geschichte erweckt eine pessimistische, resignierende Stimmung und die Beschreibung von Details wie Stephans intensiver Beobachtung von Tränenflüssigkeit in den Augen Fremder oder seine Frage, ob Stare im Herbst nach Hause oder in die Fremde fliegen, drückt eine gewisse Verwirrung der Hauptperson und ihre Suche nach Halt aus. In entsprechendem Ernst las Treichel vor.
Doch trotz der vielen ungewöhnlichen Beobachtungen und durchaus erhellenden Ideen will der Funke nicht recht überspringen. Formulierungen wie »Er hätte dem Mann seinen Grappa am liebsten über den Kopf geschüttet« wirken klischeehaft und unmotiviert. Die Tatsache, dass Stephan sich für seine bewusste Auszeit von Familie und bisherigem Leben gar eine eigene Wohnung nimmt, ist schwer nachzuvollziehen.

Artikel vom 09.11.2005