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Von Klaus-Peter Schillig

Haller
Aspekte

Gestörtes Verhältnis zur Schuld


Der Geisterfahrer auf der Autobahn hat bei einem Unfall gemeinhin keine Chance, einen Teil seiner Schuld abzuwälzen auf die, die nicht die Warnhinweise im Radio gehört haben oder auf die Straßenbauer, die keine massiven Rückhaltevorrichtungen an den Auf- und Ausfahrten eingebaut haben. Auch der gemeine Einbrecher wird, falls er erwischt wird, die volle Verantwortung tragen müssen für den angerichteten Schaden, auch wenn der Hausbesitzer seine Terrasse durch Strauchwerk zum uneinsehbaren Diebes-Arbeitsplatz gemacht hat.
Die Vergleiche mögen ein wenig hinken, können gewisse Parallelen mit dem Zivilverfahren um das Zugunglück von Halle vor drei Jahren aber nicht leugnen. Sie führen zu der Frage, warum der Fahrer eines Schwertransportes, der sich nur im Schneckentempo fortbewegen kann, sein Gefährt praktisch auf den Schienen parkt, ohne in Erwägung zu ziehen, dass vielleicht ein Zug kommen könnte. Zwei waren zum Zeitpunkt des Unfalls sogar schon durch. Und dennoch sollen dem Lokführer nun 30 Prozent von seinen Schmerzensgeldansprüchen gestrichen werden, weil die Versicherung des Transportunternehmens, die KRAVAG, verzweifelt versucht, die Schuld bei anderen zu suchen. Bei der Stadt Halle, weil sie in ihrem Zuständigkeitsbereich das Gestrüpp am Bahnübergang nicht gerodet hat. Bei der Bahn, weil sie das auf ihrem Terrain ebenfalls unterlassen hat, zudem weil sie die noch nicht einsatzbereiten Ampeln nicht deutlich genug zugehängt hat und weil sie den Zug, der allein schon durch das Andreaskreuz eindeutig Vorfahrt hat, zu schnell hat fahren lassen. Und auch der Kreis Gütersloh bekommt sein Fett weg, weil er dem Transportunternehmen nicht mitgeteilt hat, dass auf Schienen mitunter Züge fahren und weil er versäumt hat, die Telefonnummer des Fahrdienstleiters weiterzugeben, damit der Fahrer die Schritte zur Streckensperrung hätte einleiten können.
Die Fülle dieser Versicherungs-Argumente müssen den Richter regelrecht erschlagen haben. In seinem Vergleichsvorschlag folgt er der Ansicht, dass der Kreis eben diese Telefonnummer hätte weitergeben müssen. Dabei hätte ein Anruf bei der Polizei genügt, um alle Gefahren aus dem Weg zu räumen. Das hätte die Sorgfaltspflicht im Umgang mit einem solchen schwerfälligen Fahrzeug in jedem Fall geboten.
Das schwächste Glied in der Kette, der Lokführer, scheint der Leidtragende der juristischen Winkelzüge zu werden. Dabei könnte er sich wegen seines Beamtenstatus die möglicherweise fehlenden 30 Prozent seines Schmerzensgeldes und seiner Verdienstausfälle noch nicht einmal beim vermeintlich Mitschuldigen wiederholen. »Gestörtes Gesamtschuldverhältnis« nennen das die Juristen. Gestört ist hier allerdings etwas ganz anderes - nämlich die Fähigkeit, eine eigene Schuld anzuerkennen, anstatt immer zu versuchen, sie anderen in die Schuhe zu schieben. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen sich ungerecht behandelt fühlen, statt ihr Recht zu bekommen.

Artikel vom 29.10.2005