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»Emilia Galotti«: ganz und gar kein Trauerspiel

Lessing-Stück als Ouvertüre der Bad Driburger Theaterreihe begeistert das Publikum

Von Frederik Becker
Bad Driburg (WB). Lessing? 18. Jahrhundert? Ein Literaturklassiker? Wer denkt, diese Kost stoße heute nicht mehr auf entsprechenden Appetit, der irrt. Als das Nordharzer Städtebundtheater mit dem Bürgerlichen Trauerspiel »Emilia Galotti« den Auftakt der Bad Driburger Theaterreihe bot, war die Aula des Bad Driburger Gymnasiums glänzend gefüllt.
Marinelli (Sebastian Müller, r.) und der bürgerliche Odoardo (Henry Klinder). Foto: Frederik Becker
Protagonistin Emilia, aus dem bürgerlichen Hause der Claudia und Odoardo Galotti, besticht (in Person von Katrin Künstler) durch zarte Grazie und jugendliche Unschuldigkeit, worin zugleich ihre Verwundbarkeit liegt: Sie ist zerbrechlich und wird von der galanten Begierde des Prinzen Hettore Gonzaga um den Verstand gebracht.
Ein Mordkomplott am Gemahl Emilias, Graf Appiani (gespielt von Burkhard Wein, der in einer Doppelrolle auch den Maler Conti glänzend umsetzt), soll dem Prinz den Weg ebnen - um Emilia besitzen zu können. Doch mit dem Tod des Grafen beginnt die Selbstzerstörung des Bürgertums.
Ganz dezent im Hintergrund läuft dabei die Musik von Daniel Dohmeier. Sie besteht aus zarten Gitarren- und Bassklängen und steigt und fällt mit der Handlung. Teilweise schrammelig-verzerrte Töne und das wirre Bühnenmuster transferieren die jeweils passende Stimmung. Wie auf einem schmalen Grat bewegen sich die Schauspieler auf der Schanze mitten auf der Bühne, manche fallen mit viel Krach zu Boden.
Einen großen Anteil am Gesamteindruck haben auch die Kostüme der Schauspieler: Marinelli trägt eine weiße Weste - da ist die Symbolik offensichtlich - und Odoardo, Emilias tugendhafter einen schweren Mantel, er scheint an der Tugend und Moral zu ersticken. Nicht zuletzt ist es die akustische und visuelle Umsetzung, die das Stück vom 18. Jahrhundert in die Aktualität überträgt.
Die gestandenen Schauspieler sprechen mal laut, mal leise, mal flüstern sie ihre Gedanken und Monologe über ein großes Standmikrofon dem Publikum entgegen. Der Umgang auf der Bühne ist mal lieb-zärtlich, mal ruppig.
Einige Szenen muten für die Zuschauer gar tragikomödisch an: Soll gelacht werden, darf gelacht werden, wenn Marinelli seine Wut aufstaut und zu spastischen Bewegungen neigt? Und überhaupt Marinelli: Sebastian Müller überzeugt in dieser Rolle des intriganten, nach außen völlig abgekühlten Kammerdieners des Prinzen aufs Vortrefflichste und erntet am Schluss für seine Schauspielerleistung großen Applaus. Gemeinsam mit dem absolutistischen Prinzen, der von Markus Bölling mit der nötigen Laxheit gespielt wird, gibt er ein herrschaftssüchtiges Duo infernale ab. Auch Margit Hallmann als Gräfin Orsina, der aufgeklärten Mätresse, überzeugt mit einem selbstbewussten Auftritt.
Viel Theaterblut fließt am Ende der Vorstellung: Odoardo, authentisch von Henry Klinder gespielt, ersticht auf ihren eigenen Wunsch seine Tochter Emilia, um die Tugend zu wahren und auf eine göttliche Gerechtigkeit zu hoffen.
Zum Schluss ist es ganz still im Saal. Die letzten resignativen Momente der Emilia in den Armen ihres Vaters reißen das Publikum mit. André Bücker, der das Stück inszenierte, hat geschafft, was das oberste Ziel eines jeden Dramaturgen ist: Das Publikum empfindet Mitleid mit den Personen. »Verführung ist die wahre Gewalt«, stellte Lessing als Aufklärer fest und lässt es Emilia in ihren letzten Lebensminuten sagen. Wenn dem so sei, diese Inszenierung hatte Gewalt. Und ein Trauerspiel? Nein, betrauern kann man diese schauspielerische Leistung keinesfalls.

Artikel vom 28.10.2005