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Stadt
Gespräch

40 Jahre am »Katzentisch« (142. Folge):Tradition aus Kipploren gerettet


Im Herbst 1945 begann in Paderborn zaghaftes Wiederaufleben nach den schweren Bombenangriffen. Notunterkünfte wurden hergerichtet, Pappe kam in die Fenster, Dächer wurden provisorisch gedeckt. In den Jahren 1945 und 1946 stand die Beschaffung von Lebensmitteln im Vordergrund.
In den Nachbardörfern wurde »gehamstert«. Gefragt waren auf den Betteltouren Eier und Fleisch, aber auch Kartoffeln und Brot. Die Bauern hatten zum Teil Speckseiten unter die Tischplatten genagelt, so versteckt vor Plünderern und Einbrechern. In Wäldern wurden Bucheckern gesammelt, dafür gab es Öl.
An der Grenze zwischen Paderborn und Borchen war im heutigen Buchenhof ein großes Lager der Luftwaffe untergebracht. Als die Engländer für sie wichtige Utensilien abtransportiert hatten, wurden die restlichen Bestände in den Hallen am südlichen Rand des Flugplatzes freigegeben. So kamen die Paderborner an Holztanks der Flugzeuge, die Brennholz oder Gartenschmuck bedeuteten. Auch Ersatzteile für Fahrräder waren präsent.
Im Herbst vor 60 Jahre wurden noch Tote geborgen. Aus zertrümmerten Häusern und verschütteten Kellern. Aber auch die Leichname deutscher Soldaten mussten umgebettet werden. Meine Erinnerung an die Bergung eines toten Soldaten auf der Wiese an der Fürstenweg-Paderbrücke. Zur Identität wurde im Protokoll festgehalten: »Besonders lange Haare«. Einwand eines Leichenbestatters: »Die Haare wachsen auch noch bei Toten.«
Begonnen wurde mit der Schutträumung. Ab Herbst 1945 wurden die ersten Gleise für Kipploren verlegt. Zum Schluss waren es 600.000 Kubikmeter Trümmerschutt, die von den Feldbahnen in den Süden und Norden Paderborns transportiert werden mussten. In diesem Zusammenhang sollte der Rechtsanwalt und Notar und spätere Schützenoberst Dr. Karl Auffenberg genannt werden. Mit Hilfe von einsichtigen Paderbornern rettete er von den Kipploren der Feldbahn und aus zum Abtransport vorgesehenen Trümmerbergen manches Stück Alt-Paderborn. Ganze Portale in Teilstücken und Torbalken.
In den Stadtgespräch-Rückblicken auf 1945 sind oft als »Männer der ersten Stunde« Christoph Tölle, Heinrich Jüttemeyer und Franz Block sowie Stadtdirektor Norbert Fischer genannt worden. Mit dabei war von Anfang an bis 1964 Heinrich Lücking. Als Sozialdemokrat war er bereits Mitglied der Stadtverordneten-Versammlung von 1922 bis 1933. Der gebürtige Neuenbekener wurde im Januar 1946 Bürgermeister-Stellvertreter. Die Stadt gab dem bewährten Kommunalpolitiker, der auch dem ersten NRW-Landtag in Düsseldorf und zeitweise der Landschaftsversammlung in Münster angehört hatte, 1964 zum 80. Geburtstag einen Empfang im Rathaus. Er wurde als »Mann des Volkes und aufrechter und anerkannter Sozialdemokrat« gefeiert.
Es gibt viele Anekdoten. Bürgermeister Tölle, mit dem der Eisenbahner Lücking fast zwei Jahrzehnte als Vize gut zusammengearbeitet hat, erinnert sich »Ein Mann mit rauher Schale, aber gutem Kern«. Manchmal konnte er auch poltern. Dann musste man genau so laut werden«.
Es war im Jahre 1934, als die Machthaber vermeintliche »Unruhestifter in Behörden« entließen. Darunter waren im Eisenbahn-Ausbesserungswerk auch zwei frühere Stadtverordnete, Franz Block vom Zentrum und Heinrich Lücking als Sozialdemokrat. Sie mussten als »politisch Unzuverlässige« gehen. Lücking später zu Block: »Franz weißt du, warum wir rausgeschmissen wurden? Du hast zuviel gebetet, ich zu wenig«.
Als 84-Jähriger starb Heinrich Lücking. Eine Straße mit seinem Namen erinnert im Südviertel an den volkstümlichen SPD-Kommunalpolitiker, der originell und ausgestattet mit gesundem Menschenverstand war. Georg Vockel

Artikel vom 13.10.2005