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Deutschlands Balkan-Soldaten
und ihr fast vergessener Dienst

EUFOR-Mission erfolgreich - Bundeswehr stellt das größte Kontingent

Aus Bosnien-Herzegowina berichtet Carsten Borgmeier
Sarajevo/Mostar (WB). Wenn die Soldaten der European Union Force (EUFOR) in den Ortschaften von Bosnien-Herzegowina von Haustür zu Haustür gehen, sammeln sie keine Spenden für die Kriegsgräberfürsorge. Die Männer der multinationalen Eingreiftruppen (Task Forces) suchen zehn Jahre nach Kriegsende auf dem Balkan Waffen, die lieber versteckt als abgegeben werden.

Ein Oberfeldwebel der Bundeswehr fasst zusammen, was jetzt in zwei Dörfern nahe Sarajevo ans Tageslicht kam: »Wir fanden 1300 Handgranaten, 50 000 Schuss Munition, hundert Gewehre und 1000 Kilogramm Sprengstoff. Die Waffen lagen im Keller unter Kartoffeln, im Kleiderschrank oder im Bettkasten.« Diese Aussage bringt die Situation in Bosnien-Herzegowina auf den Punkt: Der Balkan ist nach wie vor ein Pulverfass.
Bald stehen in dem fragilen Staat wichtige Geburtstage an: Die Friedensmission der EUFOR wird am 2. Dezember ein Jahr alt. Sie ist die erste große Militäroperation der EU. Insgesamt beteiligen sich 33 Nationen mit 7000 Soldaten daran. Der zweite Geburtstag ist der zehnte Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Dayton/Ohio am 21. November 1995. Durch Luftangriffe der NATO hatte damals die Weltgemeinschaft unter Führung von US-Präsident Bill Clinton Serben, Kroaten und Bosniaken an den Verhandlungstisch gezwungen. Einer der grausamsten Bürgerkriege mit 200 000 Toten und 1,2 Millionen Flüchtlingen konnte dadurch beendet werden.
Die Soldaten aus Deutschland leisten in dem EUFOR-Einsatz den größten Beitrag, denn die Bundeswehr stellt mit 1100 Männern und 60 Frauen das stärkste Kontingent. Seit Kosovo (1999) und Afghanistan (2001) ist der Dienst in Bosnien-Herzegowina in der Heimat in Vergessenheit geraten. Die deutschen EUFOR-Soldaten berührt das nicht, sie erledigen professionell ihren Job, der in der Regel vier Monate dauert.
Einer dieser Soldaten ist der 23-jährige Feldwebel Thomas Deutscher vom Gebirgsjäger-Bataillon 231 aus Bad Reichenhall. Er gehört zum zweiten EUFOR-Einsatzkontingent und befindet sich seit mehr als drei Monaten täglich als Patrouillenführer »draußen«. Die »Patrol Areas« im Bereich der Task Force Südost bekommt er verschlüsselt vom Hauptquartier in Butmir zugewiesen, der Auftrag lautet: aufklären und Präsenz zeigen. Die zehn Soldaten starke Patrouille befährt das urwüchsige Land mit Geländewagen; einer der Schwerpunkte liegt auf der Eindämmung des Holzschmuggels. »Wir überprüfen Sägewerke und kontrollieren, ob die geschlagenen Stämme die erforderlichen Stempel aufweisen«, berichtet Deutscher. Für eine Eiche gebe es auf dem Schwarzmarkt 2500 Euro, erklärt der Feldwebel.
Der wichtigste Grund für die Patrouillen jedoch besteht darin, den Frieden zu erhalten: Zwar wird die Sicherheitslage offiziell als ruhig und stabil bezeichnet, doch sind in Bosnien-Herzegowina vor zehn Jahren unbeschreiblich grausame Dinge geschehen, die Rache und Hass zwischen den verfeindeten Volksgruppen der Serben, Bosniaken und Kroaten vertieften. Deutscher und seine Kameraden haben genau erfahren, wo Massenerschießungen, Vergewaltigungen und Folterexzesse stattfanden. In Foça beispielsweise, vorwiegend von Serben bewohnt, wurden muslimische Männer und Jungen mit Bauchschüssen von einer Brücke in die Drina geworfen - 3000 Tote fischte man flussabwärts bei Gorâzde aus dem Wasser. Die Serben internierten Frauen und Mädchen in Hotels und Sporthallen - um sie dort zu vergewaltigen. Danach wurden auch sie getötet und verscharrt.
Um zu erfahren, wo die Bosniaken der Schuh drückt, hat die Bundeswehr sogenannte LOT-Häuser eingerichtet. LOT steht für Liaison and Observation-Team, was so viel wie Verbindungs- und Beobachtungsgruppe bedeutet. In Foça (50 000 Einwohner, 99 Prozent Serben) haben sich daher Oberleutnant Robert Rühfel (29) und sein sechsköpfiges Team eingerichtet. Rühfel und seine Soldaten werden sechs Monate in Foça verbringen, um dort einen mutigen Beitrag zur EUFOR-Mission zu leisten. Zu ihren Aufgaben gehört, Gemeindeverwaltung und Polizei mit Vertretern der verschiedenen Volksgruppen zu unterstützen, die Rückführung von Flüchtlingen zu gewährleisten und Hilfsmaßnahmen für Bedürftige einzuleiten. »Wir leben hier mitten in der Bevölkerung, unsere Ohren sind für die Menschen immer offen«, sagt Rühfel. Unterwegs in der Stadt tragen die Soldaten keine Waffen, denn: »Die beste Lebensversicherung ist unsere Uniform«, sagt der Oberleutnant.
Patrouillen und LOT-Büros sind Beispiele für die Hilfsmaßnahmen der Bundeswehr für Bosnien-Herzegowina. Die deutschen Soldaten leisten Großartiges, Erfolge sind nicht zu übersehen: Der Tourismus keimt auf, und die Streitkräfte konnten von 60 000 (1996) auf 7000 Mann reduziert werden. Was jedoch nach einem Abzug der EUFOR geschehen würde, da sind sich selbst hohe Militärs nicht sicher. Ein muslimischer Taxifahrer aus Sarajevo: »Mit den Serben habe ich dann noch eine Rechnung zu begleichen.«

Artikel vom 19.10.2005