05.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Wien hat mit seiner Position der Härte das Thema Türkei wieder in das Bewusstsein gehoben.«

Leitartikel
Türkei und EU

Österreichs
kluger
Schachzug


Von Jürgen Liminiski
Dieser Bundeskanzler hat seinen Platz in den Geschichtsbüchern verdient. Gemeint ist natürlich nicht der deutsche, sondern der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Seine langanhaltende Weigerung, der Türkei die Tür zu den EU-Verhandlungen zu öffnen, ist in dreifacher Hinsicht historisch.
Zum einen ebnet er damit Kroatien, einem genuin europäischen Land, den Weg in die EU. Die Technokraten in Brüssel wollten Zagreb diesen Weg mit dem Argument verbauen, es arbeite nicht mit dem Haager Tribunal zusammen. Im Fall Kroatiens geht es um einen einzigen flüchtigen General, den Zagreb an das Tribunal in Den Haag überstellen und damit die Menschenrechtsverletzungen im letzten Balkan-Krieg anerkennen soll.
Zagreb wird unterstellt, es weigere sich und zur Strafe soll die Tür nach Europa verschlossen bleiben. Im Fall der Türkei geht es um ein ganzes Volk, das von Ankara verfolgt und nahezu ausgelöscht wurde. Alle namhaften Türkei-Forscher haben auch in ihren jüngsten Werken Beweise für den Völkermord an den Armeniern vorgelegt. Aber Ankara leugnet beharrlich den Mord an Millionen Menschen als historische Tatsache und darüber wollen die Verheugens, Schröders, Blairs und all die anderen Freunde des türkischen Premiers Erdogan geflissentlich hinweggehen. Man darf sich schon fragen, warum die Türkei-Fans das christliche Kroatien so sehr hassen.
Zum zweiten hat Wien mit seiner Position der Härte das Thema Türkei wieder in das Bewusstsein gehoben. Wien kann mit der Unterstützung von fast zwei Dritteln aller Europäer rechnen und es dürfte den Brüsseler Freunden von Erdogan schwer fallen, die Türkei unter ferner liefen nach Europa einzuschleusen.
Die Wähler in Europa schauen jetzt aufmerksamer auf die Wahrung der Minderheitenrechte und auch auf die Rechte der Frau in dem kleinasiatischen Land. Es reicht nicht, dass Ankara formal die Kriterien eines demokratischen Landes erfüllt, auch die Sowjetunion, das Land des Archipel Gulag, hatte formal eine freiheitliche Verfassung. Es kommt auf die Umsetzung an und da liegt in der Türkei vieles im Argen.
Zum dritten hat Wien nicht nur daran erinnert, dass die Türkei weder geographisch noch zivilisatorisch ein europäisches Land ist, sondern dass die Europäer mehr über ihre eigene Identität, ihre Aufgabe in der Welt und ihre Grenzen nachdenken müssen. Dafür eignet sich die Türkei-Frage in besonders guter Weise. Leider denkt man in Brüssel über solche Fragen wenig nach. Aber dennoch ist Europa noch nicht verloren.
Die Partie geht weiter und eines der zum Referendum über die Türkei aufgerufenen Völker - etwa die Franzosen - werden dem unehrlichen und feigen Treiben in Brüssel schon ein Ende setzen. An Kroatien wird dann niemand mehr denken. Insofern war die Haltung und auch das Nachgeben der Österreicher in letzter Minute ein kluger Schachzug für Europa.

Artikel vom 05.10.2005