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Nach dem Türkei-Beschluss: EU
braucht Geld und eine Reform

Für britische Ratspräsidentschaft gibt es bis Jahresende noch viel zu tun

Von Dieter Ebeling
Luxemburg (dpa). Die Fahnen vor dem Konferenzgebäude auf dem Luxemburger Kirchberg sind wieder eingerollt. Zwei Erweiterungen - um die Türkei und um Kroatien - haben die EU-Außenminister mühsam auf den Weg gebracht. Nun kehrt der Alltag wieder ein.

Für den britischen Außenminister Jack Straw, der sich nach mehr als 30-stündigem Ringen um einen Kompromiss mit den widerspenstigen Österreichern im Glanz des Krisenbewältigers präsentierte, gäbe es noch viel zu tun.
Die Europäische Union macht Ankara und Zagreb Hoffnungen auf einen Beitritt zu einer Gemeinschaft, die nach dem bereits beschlossenen Beitritt Rumäniens und Bulgariens vermutlich von 2007 an bereits 27 Mitglieder haben wird. Aber sie ist auf die große Türkei-Erweiterung überhaupt nicht vorbereitet. Auch wenn die Union sich in gutem Zustand befände, gingen jene 27 Milliarden Euro, die bei Fortsetzung der derzeitigen Politik der Türkei-Beitritt jedes Jahr kosten würde, weit über das hinaus, was sich die EU leisten kann.
Doch derzeit hat die Union nicht einmal ein Budget von 2007 an. Wann und ob sie eine Verfassung bekommt, mit der die Institutionen die 29 oder gar 30 Mitglieder (wenn auch der Staatenbund Serbien und Montenegro noch beitritt) verkraften können, steht in den Sternen.
Straw reagiert auf Zweifel an der EU, vor allem aber an der noch bis Jahresende amtierenden britischen Ratspräsidentschaft, kaum. »Das hat es auch früher schon gegeben«, winkt er auf Journalistenfragen nach der Krise um die Haushaltsplanung ab. Und ja: Natürlich werde sich London darum kümmern. »Gibt es sonst noch Fragen zum Thema Türkei?«
Seit Anfang Juni, als die lässigen Briten von den emsigen Luxemburgern den Ratsvorsitz übernahmen, ist das Thema Haushaltskrise völlig von der politischen Tagesordnung verschwunden. Premierminister Tony Blair will während eines Gipfeltreffens in London Ende Oktober weder über die maroden Finanzen der Union noch über die Verfassungskrise sprechen - sondern über »das europäische Sozialmodell«.
Beim Gipfeltreffen in Hampton Court wollen zumindest einige EU-Regierende nicht nur über das politisch Große und Ganze philosophieren. Die Frage, zu welchen Ergebnissen Blair in der »Denkpause« über die Verfassungskrise gekommen ist, soll ihm schon gestellt werden. »Wir sehen mit gewisser Besorgnis, dass die Präsidentschaft dieses Thema ziemlich ausgeblendet hat«, sagt ein EU-Diplomat.
Intern regt sich auch - trotz des Erfolgs in letzter Minute bei der Türkei-Erweiterung - Kritik am Krisenmanagement. Zu lange habe London die österreichische Ablehnung des Verhandlungsrahmens im EU-Botschafterkreis dahindümpeln lassen, zu spät zur Chefsache gemacht.
Eine umfassende Reform der Europäischen Union ist nach übereinstimmender Ansicht der Mitgliedstaaten angesichts der Türkei mit derzeit 70 Millionen Bürgern und ebenso großen Wachstumschancen wie Wirtschaftsproblemen zwingend nötig. »Die Union ist an einem Punkt angelangt, an dem man sich nicht mehr einfach durchwursteln und hoffen kann, am Ende werde sich schon alles irgendwie regeln«, sagt ein Diplomat.
So wird denn auch der Vorstoß Österreichs, einen Beitrittsautomatismus zu verhindern, von vielen als im Ansatz durchaus richtiger Versuch betrachtet, eine Debatte über die Frage zu erzwingen, wie viel Europa die EU verträgt.
Zumal sich die EU in Sachen Türkei auf einem Kurs befindet, der vor allem in den meisten alten Mitgliedstaaten mit deutlichen Mehrheiten abgelehnt wird. Und weil doch nach dem Schock der gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden die Politiker eigentlich unisono gelobt hatten, künftig den Bürgern besser »zuzuhören«.

Artikel vom 05.10.2005