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Die Kolumne Stadtgespräch erscheint mittwochs in dieser Zeitung.

Stadt
Gespräch

40 Jahre am »Katzentisch« (139. Folge):Schuttberge und Maismehl


Paderborn im Sommer und Herbst vor 60 Jahren. Mühsam begannen Bürger, ihre Häuser und Wohnungen notdürftig herzurichten. Viele lebten in Kellerräumen und Gartenhäusern. Wer die ersten Monate Nachkriegszeit in der zu 85 Prozent zerstörten Paderstadt miterlebt hat, kannte zunächst das einzige Ziel, täglich Nahrungsmittel zu beschaffen. »Wir brauchen Korn für Mehl«, lautete ein Notruf an die amerikanischen und britischen Besatzer. Corn ist im englischen Sprachgebrauch Mais. Und solches hellgelbe Maismehl traf bald ein, angeboten als Kuchenmehl mit Eipulver!
Der spätere Bürgermeister Christoph Tölle: »Eindrucksvoll die emsige Tätigkeit der Bürger beim Schutträumen und dem Heraussuchen von Ziegelsteinen, die vom Mörtel gesäubert wurden«. Hermann Bieker in »Die brennende Stadt«: »Wer will das Loblied singen auf unsere Fauen, insbesondere die Witwen, die man tagein, tagaus auf Trümmern ihres Hauses harte Arbeit leisten sah, die sich von Männerarbeit nur dadurch unterschied, dass manche bittere Träne in den Maurerspeis hineinglitt«.
Ab Juni 1945 organisierte der von der Militärregierung ernannte hauptamtliche Bürgermeister Dr. Norbert Fischer mit dem späteren Leiter des städtischen Tiefbauamtes, Heinz Reichardt, die Schutträumung in der Innenstadt. Eine halbe Million Kubikmeter Trümmerschutt mussten beseitigt werden.
In der Stadt entstand nach und nach ein 13 Kilometer langes Schienennetz für »Feldbahnzüge«. Dampf- und Dieselloks zogen die 150 Kipploren, die mit Trümmerschutt beladen wurden. Auf dem Maspernplatz zerkleinerten drei Betriebe mit besonderem Gerät die Trümmer und erzeugten so Schotter, Splitt und Steine für den Wiederaufbau. Der übrige Schutt wurde zum Auffüllen der Paderaue und am Schützenweg (Sportzentrum, Paderkampfbahn) sowie für die Ränge des Inselbad-Stadions und den anschließenden Hartplatz genutzt. Im späten Herbst 1945 wurden auch südlich der Bahnlinie Gleise für die Trümmerbahn verlegt. Der Schutt kam in die Steinbrüche am Querweg und der Borchener Straße. Unterhalb der Schonung türmten die Kipploren einen neuen Hügel, den »Monte Scherbelino«.
Nachkriegswunder: Schon am 1. Juli 1945 konnte die erste Straßenbahn wieder fahren, aus der Trümmerstadt ab Detmolder Tor bis Horn in Lippe. Am 13. Juni nahm die Reichsbahn den Verkehr auf bis Soest im Westen und Büren im Süden.
Im Sommer vor 60 Jahren fanden bei »Gabriel« (heute »Weinkrüger«) erste Versammlungen statt. Es gab »bierähnliche Getränke«, und im Herbst und Winter mussten zum Heizen des Tagungssaales Holz oder Schlammkohle mitgebracht werden.
Zusätzliche Belastung: Flüchtlinge aus dem Osten kamen in die Region, Soldaten aus dem Krieg und wegen der Bomben Evakuierte kehrten heim in die zerstörte Stadt.
Die Engländer hatten an die 1000 Männer als Nazis interniert in Eselsheide und Staumühle. Sie mussten auch beim Enttrümmern in Paderborn helfen. Und Kinder hänselten Kleine aus der Nachbarschaft: »Dein Vater ist in Staumühle und muss in der Stadt Schutt schüppen!«
Allgemeines Leben erwachte nach und nach. Zunächst war die Domkrypta Informationsstelle. Es folgten die Sakristei der wenig zerstörten Pfarrkirche St. Georg (1937 als Militärkirche für die nahen Kasernen durch Erzbischof Caspar Klein konsekriert), die Räume bei Pötz und Klingenthal, das Karl-Sonnenschein-Haus an der Neuhäuser Straße, die Heiersburg am Maspernplatz und das »Rote Reichsbahn-Haus« in der Bahnhofstraße als Sitz der Militärregierung. Der britische Stadtkommandant hatte das Haus Renneke am Fürstenweg als seine Dienstvilla beschlagnahmt.
Hermann Müller, Wewer, erinnert sich: »Ich bin im Sommer 1945 vom Dom zum Bahnhof gegangen. Mir sind in den Trümmern nur 14 Leute entgegen gekommen.«Georg Vockel

Artikel vom 21.09.2005