19.09.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Am Wahlabend wollte
niemand Verlierer sein

Jubel bei der SPD - Nach Freude Frust bei der Union

Berlin (dpa/Reuters). Jubel bei der SPD trotz Stimmenverlusten, nach anfänglicher Freude Frust bei der Union, obwohl sie nach den Hochrechnungen stärkste Kraft im neuen Bundestag wird. Geteilte Freude herrscht auf den Wahlpartys gestern Abend in Berlin auch bei den beiden Wunschkoalitionspartnern der großen Parteien.

Dass es für eine schwarz-gelbe Koalition nicht reicht, dämpft bei der FDP die Freude über die erstaunlichen Zugewinne. Auch die Grünen schwanken zwischen Euphorie und Nachdenklichkeit. Die Linkspartei berauscht sich an ihrem Wiedereinzug als Fraktion ins Parlament.
Als Bundeskanzler Gerhard Schröder um 19.25 Uhr gemeinsam mit SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering das Podium im Willy-Brandt-Haus betritt, wird er mit Jubel und Applaus empfangen. Mehr als 2000 Menschen drängen sich in der Parteizentrale. Viele recken Schilder mit der Aufschrift »Schröder für Deutschland« in die Höhe. Der Kanzler meldet sogleich seinen Anspruch auf »eine stabile Regierung unter meiner Führung« an. Er reißt die Arme hoch und lässt sich wie ein Sieger feiern.
Bei den ersten Hochrechnungen um 18 Uhr Zurückhaltung der SPD-Mitglieder über das eigene Abschneiden, ohrenbetäubender Lärm jedoch, als die Verluste der Union deutlicher werden. »Wir sind so glücklich«, sagt die 21-jährige Maike Schölmerich strahlend. »Es reicht nicht für Schwarz-Gelb - das ist der Triumph.«
Als Müntefering vor die Mikrofone tritt, herrscht bei der CDU im Konrad-Adenauer-Haus Funkstille. Wegen eines Tonausfalls kann niemand im Fernsehen hören, was er zu den Genossen sagt. 3000 Menschen drängeln sich in der CDU-Zentrale. Nach den Hochrechnungen Ernüchterung: Zwar scheint die Union unter Kanzlerkandidatin Angela Merkel stärkste Fraktion im Bundestag zu werden, erleidet jedoch starke Verluste. Es brandet aber auch Beifall auf, als Angela Merkel ihren Ansprcuh auf die Kanzlerschaft bekräftigt.
Ein Wechselbad der Gefühle durchleben die Liberalen. Als in der ersten Prognose das gelbe Torten-Stück zehn plus markiert, tobt der Saal in der FDP-Zentrale. »Das reicht doch«, ruft ein FDP-Mann. Wenig später bei der Auflistung der Sitzverteilung ist die gute Laune unter den weit über 1000 Gästen wie weggeblasen: »Es reicht doch nicht.« Parteichef Guido Westerwelle schließt etwas anderes als Schwarz-Gelb dennoch aus: »Wir stehen für eine Ampel oder eine andere Ampelei nicht zur Verfügung.«. Enttäuscht sagt ein FDP-Party-Gast: »Wir haben gewonnen, aber sind da gelandet, wo wir nicht wollten.«
Im Jubel der 2500 Grünen-Anhänger in einem ehemaligen Flugzeug-Hangar des Flughafens Tempelhof gehen die auf eine Videoleinwand übertragenen Statements von Westerwelle oder Merkel unter. Damit haben die meisten nicht gerechnet. Das Wasser lassen die meisten im Lauf des Abends stehen, Biobier oder Rotwein fließen. Nur bei einigen stellt sich Nachdenklichkeit ein angesichts der Unklarheit darüber, wer denn nun mit wem regiert.
Bei der Wahlparty der Linkspartei wird nur noch gejubelt. Mehrere tausend Anhänger rufen »Gregor, Gregor« und »Oskar, Oskar«. Die Spitzenkandidaten Gregor Gysi und Oskar Lafontaine strahlen ob des Wiedereinzugs in den Bundestag. Gysi bringt den Saal zum Toben, als er ruft: »Die bisherige Regierung wurde abgewählt und Schwarz-Gelb wurde nicht gewählt.«

Artikel vom 19.09.2005